Warum nicht digital im Blauen Ozean schwimmen?

Dr. Horst Tisson, Professor für BWL

Professor für BWL, insbesondere IT-Management und Controlling an der Hochschule für Oekonomie & Management, Geschäftsführer der Tisson & Company GmbH Managementberatung.

Wenn Berater und Rechtsanwälte durch Algorithmen und Digitalisierung ersetzt oder medizinische Diagnosen mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz durchgeführt werden, wenn Kinder fragen „Was ist eigentlich ein Fernseher?“ und die Zahnbürste online geht, dann verändert sich etwas – und zwar ganz schnell! Industrie 4.0 und die Digitalisierung haben Branchen, Unternehmen und Privatpersonen fest im Griff.

Grundsätzlich ist Veränderung nicht neu. Als das Unternehmen Cirque du Soleil sich zu einer festen Größe im Unterhaltungsgeschäft entwickelte, war die Zirkusbranche am Boden: immer aufwändigere Artistennummern, teure Tierhaltungen, Mehrfachmanegen und Kunden, die immer weniger Eintritt bezahlen wollten. Das Unternehmen ließ Tiere und zusätzliche Manegen weg, fügte neue Elemente des Varietés hinzu und schaffte eine längst verloren geglaubte Zauberwelt des Zirkus‘. Was das mit Industrie 4.0 und Digitalisierung zu tun hat? Zunächst einmal so viel, dass es immer schon bahnbrechende Veränderungen gab und Unternehmen es schafften, sich aus wettbewerblich ruinösen Haifischbecken zu verabschieden. Cirque du Soleil hatte es geschafft, für sich einen Blauen Ozean zu finden, in dem wenig Wettbewerb existierte und sogar wieder höhere Preise verlangt werden konnten.1)

Wie kann Industrie 4.0 genutzt werden, um neue Geschäftsmodelle zu entwickeln? Zunächst, der Begriff ist nicht gut gewählt und irreführend. Viele verbinden mit ihm im ersten Schritt einen eher technisierten und nach innen gerichteten Ansatz: Automatisierung, Vernetzung, Effizienzsteigerung. Das ist alles nicht falsch, denn die Möglichkeiten durch das Internet der Dinge, die Sensorik und immer mächtigere Rechner sind für Unternehmen großartig. Industrie 4.0 ist aber viel mehr, weil – ähnlich dem Beispiel des Cirque du Soleil – Branchengrenzen vollständig verschoben werden können. Aus Hotels werden Bettenlieferanten, Ferienveranstalter sind abhängig von Reiseportalen und Autohersteller steigen in das Car-Sharing-Geschäft ein. „Kein Auto. Kein Haus. Kein Boot. – Nutzen statt kaufen“.2)

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Attacke auf das eigene Geschäftsmodel . . .

Neue Geschäftskonzepte müssen individuell entwickelt werden, es gibt sie nicht von der Stange. Sie vereinen meist digitale Services und Produkte, die wie im obigen Beispiel entkoppelt sein können. Der Betreiber eines Internetportals ist oft nicht das produzierende Unternehmen, aber er besitzt die Kundenschnittstelle. In der Zeit, in der sich traditionell organisierte Unternehmen mit Strategien, Konzepten und Abstimmprozessen beschäftigen, entwickeln oft agile Projektteams neue Lösungen, probieren aus und attackieren im schlimmsten Fall das eigene Geschäftsmodell.

Die Disruption ist in vollem Gange. Sie ergreift eine Branche nach der anderen. Aber auch dieser Begriff sollte anders interpretiert werden. Wer es versteht, aus einer Defensivrolle in eine aktive zu kommen, der nutzt die Disruption (Aufspaltung, Bruch, Zerreißung) für sich selbst. In einer sich ständig ändernden Welt, die immer komplexer und unberechenbarer wird, entwickeln einige Unternehmen bereits Strategien, die eigenen Geschäftsmodelle anzugreifen. Hierzu müssen seitens der Unternehmen Rahmenbedingungen geschaffen werden sowie Buiness, Prozesse und IT gemeinsam kreativ Innovationen schaffen.

Ob nun smarte Textilien zur Ermittlung der körperlichen Verfassung, Drohnen zum Versand von Defibrillatoren oder Versicherer, die zertifizierte Autos verkaufen und gemäß dem Amazon-Modell vor die Tür stellen: Innovationspotenzial gibt es genug – und die Technologien gleich mit.

  1. Kim, W. C. und Mauborgne, R., Der Blaue Ozean als Strategie, 2. akt. und erw. Aufl., Hanser, München, 2016.
  2. Meyer, J.-U., Digitale Disruption, Die nächste Stufe der Innovation, Business Village, Göttingen, 2016.

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