Drei Persönlichkeiten auf einem Sattel

Glosse von Wolfgang Becker.

Kaum Vorstellbares kündigt sich im Norden Deutschlands an: Vom 11. bis 15. Oktober werden mitten in der Pandemie und bei schwankenden Inzidenz-Werten 15 000 Menschen (!) aus mehr als 100 Ländern (!) in Hamburg erwartet – Gäste und Besucher des ITS World Congress 2021. Man darf davon ausgehen, dass die bunte Schar auf konventionelle Weise anreist, auch wenn es auf dem Kongress um innovative Transportsysteme gehen soll. Aber die gibt es derzeit nur bedingt, allenfalls im Probemodus wie beispielsweise das autonome Ring-Shuttle in der Hafen-City.

ITS? In Hamburg könnte der Kongress auch ATS heißen – für Alternative Transportsysteme, denn die werden derzeit mit Macht ins Stadtbild gemeißelt. Wir erleben die kollektive Umkehrung der Verhältnisse: Während in China das Auto auf dem Vormarsch ist und die Chinesen vom Fahrrad steigen, um nach Lust und Laune neue E-Mobile zu erfinden, setzt Hamburg, ja vielleicht sogar ganz Deutschland, auf das Fahrrad. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die Rückkehr der Schottschen Karre am Neuen Wall nur noch eine Frage der Zeit ist. Damit wäre dann auch endlich das Lieferproblem auf der letzten Meile gelöst. Dr. Hans Fabian Kruse, Präsident des AGA Unternehmensverbandes, sieht hier eines der größten Versäumnisse der grünen Verkehrsbehörde, die zwar das Auto aus der Stadt treiben will, aber bislang noch hanseatisch zurückhaltend auf ein ganzheitliches Konzept verzichtet.

Mittlerweile durchziehen die Hansestadt ausgewiesene Velo-Routen. Ganze Straßen wurden lahmgelegt, um den Veloisten freie und sichere Fahrt zu bieten. Nach dem Motto „Autos raus – Fahrräder rein“ schaltet die Stadt auf Nachhaltigkeit um. Quer über stark befahrene Straßen wie beispielsweise am berühmten Ballindamm werden da Fahrradspuren auf den Asphalt gepinselt. Grundsätzlich ja keine schlechte Idee, wenn nur die Fahrradfahrer nicht wären.

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Im rechten Winkel nach links . . .

Angestachelt von der Gender-Ideologie hat sich unübersehbar ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Strampler im Windschatten von ampelgeschädigten DHL-Transportern einer Persönlichkeitsspaltung unterzogen: Drei Persönlichkeiten sitzen auf vielen Sätteln – je nach Lage ist der Motor des Drahtesels ein Fahrradfahrer, ein Fußgänger oder ein Auto. Springt die Fußgängerampel auf Rot, wird der Fahrradfahrer zum Fußgänger, biegt im rechten Winkel nach links auf den Zebrastreifen ab, schubst im schlimmsten Fall noch Oma Meyer vor einen wartenden E-Smart und setzt seinen Weg am liebsten auf dem Fußweg fort – gerne auch E-unterstützt. Andere Fahrradfahrer fühlen sich permanent als Auto – sie dümpeln in der Straßenmitte vor sich her („Hallo, Autofahrer, denk dran: ein Meter fuffzig Abstand halten, klar?“) und ignorieren den vorhandenen Fahrradweg („Der ist für Kinder und alte Leute . . .“).

Wieder andere haben eine Rot-Grün-Schwäche: Die Kreuzung ist frei, dann mal schnell bei Rot rüber. Und die ganz Harten nageln mit Tempo 30 auf dem dezent abgepflasterten Radweg vis-à-vis der Europa-Passage mitten hinein in die dort brav an der Fußgängerampel wartende Touristenschar. Nein, es gab keine Toten, aber einen pöbelnden Radfahrer, der – zur Rede gestellt – sein Recht auf freie Fahrt einforderte: „Wer steht denn hier wohl
falsch . . .!?“ Rücksicht auf schwächere Verkehrsteilnehmer? Eher nicht – beim Aufprall auf einen Passanten verwandelt sich der ultraschnelle Kampf-Biker automatisch in einen ebenso schwachen Fußgänger.

P.S.: Prophylaktisch bitte ich all jene Radfahrer um Entschuldigung, die die Verkehrsregeln beherrschen und anwenden sowie rücksichtsvoll unterwegs sind. Euch gibt es. Ihr seid nicht gemeint!

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