„Elchtest“ für die Spundwand-Ramme

Prof. Dr. Ing. Jürgen Grabe im Versuchslabor an der Harburger Schloßstraße: Hier finden Analysen und Experimente rund um das Thema Boden statt. Der Hamburger ist auch Vorsitzender des „Ausschusses Ufereinfassungen“, ein etwa 30-köpfiges Spezialistenteam, das unter anderem ein Regelwerk mit Bauempfehlungen herausgibt – die so genannte „Bibel des Hafenbaus“. Fotos: Wolfgang Becker

Das TUHH-Institut für Geotechnik und Baubetrieb: Prof. Dr. Jürgen Grabe über die Chancen unterdisziplinärer Forschung

Rein statistisch kippt geschätzt ein bis zwei Mal pro Tag irgendwo auf der Welt eine große Spezialtiefbaumaschine um. Der Grund: Die teils 30 und mehr Meter hohen Ungetüme auf Ketten, mit denen beispielsweise Pfähle in den Boden gebohrt, gerüttelt oder gerammt werden, haben einen hohen Schwerpunkt und wiegen gut und gerne schon mal 120 Tonnen. Gibt der Untergrund nach, kann die Maschine ins Wanken kommen und umkippen, wenn der Fahrer falsch reagiert. „Das geschieht regelmäßig und endet nicht selten tödlich für den Bediener“, sagt Professor Dr. Ing. Jürgen Grabe, Leiter des Instituts für Geotechnik und Baubetrieb an der Technischen Universität Hamburg (TUHH). Was fehlt, ist ein „Elchtest“ für Baumaschinen – ein Thema, mit dem sich der 58-Jährige und sein Team im ehemaligen Thörl-Verwaltungsgebäude an der Harburger Schloßstraße befassen und bereits erste Erfolge vorweisen können. Der „Elchtest“ kommt bekanntlich aus der Automobilindustrie und ist bestanden, wenn ein Fahrzeug in extremen Kurvenlagen nicht umkippt. Jürgen Grabe erklärt die Herausforderung so: „Jeder von uns hat schon mal mit dem Stuhl gekippelt. Unser Gehirn reagiert, wenn die Grenze errei cht ist und der Stuhl wirklich kippt. Die Frage lautet also: Was merkt der Mensch? Wenn wir das wissen, können wir die Steuerungen von Maschinen entsprechend programmieren. Sie reagieren dann automatisch richtig, bevor der Kipp-Punkt erreicht ist. Erfahrene und ausgeschlafene Maschinenführer merken das übrigens auch – sie kippen nämlich nicht um.“

Bloß nicht umkippen

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Bei der Erforschung des Kippvorganges geht es um Stichworte wie Neigungsrate und Beschleunigung. Jürgen Grabe: „Im Modellversuch funktioniert die Steuerung bereits. Wir sind bereits dabei, Großversuche zu fahren.“ Und: „Wenn es uns gelingt, mit unserer Forschung das Risiko für die Fahrer zu minimieren und schwere Unfälle dieser Art zu verhindern, dann ist das eine lohnende Aufgabe.“ Ganz nebenbei sind zumeist auch die teuren Maschinen ruiniert, wenn sie umgekippt sind.

Blick auf den Maschinenbau

Jürgen Grabe ist Spezialist und Forscher auf dem Gebiet der Gründung von Bauwerken. „Geotechnik ist ein Pflichtfach“, sagt er und erläutert, dass die Gründung von Gebäuden immer eine Frage des Untergrunds, also des Bodens ist. Der gebürtige Hamburger wurde 1998 an die TUHH berufen. Viele bekannte Baumaßnahmen in Hamburg sind auch mit seiner Beteiligung realisiert worden – zum Beispiel die Elbphilharmonie, der Containerterminal in Altenwerder und die Erweiterung des Airbusgeländes im Mühlenberger Loch. Aus jener Zeit stammt ein Kontakt zu dem Hamburger Bauunternehmer Werner Möbius, dessen Stiftung zwei Stellen am Institut finanziert. Grabe: „Werner Möbius ist ein innovativer Geist. Er schaut nicht nur, wie sich Bauprojekte realisieren lassen, sondern auch, wie sich die Baumaschinen und -verfahren weiterentwickeln könnten.“

Von Möbius stammte auch die These, Geotechnik sei eigentlich nur angewandter Maschinenbau. Jürgen Grabe: „Das war für uns natürlich ein harter Schlag, aber im Grunde hatte er ja Recht. Tatsächlich wissen Geotechniker viel über den Boden, aber nur wenig über den Maschinenbau. Die Zusammenführung von Geotechnik und Maschinenbau sowie Mess-, Regel- und Steuerungstechnik ist aber ein Zukunftsthema. Vor dem Hintergrund der Digitalisierung denken wir heute bereits über die vollautomatisierte Herstellung von Gründungen nach.“ Jürgen Grabe war auch beteiligt, als es um die Tragfähigheit des Kaispeichers ging, auf dem heute Hamburgs neues Wahrzeichen, die Elphi, thront: „Der Kaispeicher war für hohe Lasten ausgelegt und stand auf 1000 Pfählen. Nun ging es darum, ob diese Pfähle das Konzerthaus tragen würden. Dazu haben wir Versuche gemacht und Berechnungen angestellt. Erstaunlicherweise fanden wir 2004/2005 heraus, dass die in den 1960er-Jahren gesetzten Betonpfähle heute tragfähiger sind als damals. Es gelang uns bei den Vor-Ort-Versuchen nicht, die Pfähle an ihre Grenzlast zu bringen. Um den Neubau zu tragen, wurden dennoch 500 weitere Pfähle gesetzt – die alten wurden bei der Berechnung aber belastbarer angesetzt als beim Bau des Speichers im Jahre 1964.“ Durch verschiedene physikalische Prozesse sowohl im Beton als auch im Boden kommt es im Untergrund mit den Jahren zu einer regelrechten Umklammerung der Pfähle und folglich zu einer höheren Tragfähigkeit.

Gründung von Zahnimplantaten

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Am Institut werden entsprechende numerische Simulationen durchgeführt. Das gilt auch für die Gründungsberechnungen bei Offshore-Windparks, für Geothermie-Projekte oder den Tunnelbau. Das TUHH-Institut ist ein begehrter Partner, wenn es um Gutachten und Forschungsvorhaben geht. Zirka zwei Millionen Euro Drittmittel kommen so pro Jahr zusammen. In der Folge ist das Institut mit etwa zwei Dutzend Mitarbeitern eines der größeren unter dem TUHH-Dach. Die Liste der Forschungsprojekte ist lang.

Wesentlich näher an den Menschen, die sich mit Geotechnik nicht auskennen, ist dagegen ein Thema, das sich eher zufällig zu einer Kooperation mit der Uni-Klinik Eppendorf ergeben hat. Professor Grabe: „Wir entwickeln gemeinsam einen Optimierungsalgorithmus für Zahnprothesen.“ Einfach erklärt: Ein Backenzahn hat vier Wurzeln, um die herum sich der Knochen natürlicherweise verdichtet, um für starken Halt zu sorgen. Die Gründung einer Zahnprothese, das eigentliche Implantat, sitzt in der Regel aber wie eine Pfahlwurzel im Kiefer. Mit den Jahren verdichtet sich auch um dieses Implantat herum der Knochen und zieht die Substanz dazu aus den Nachbarbereichen des Kiefers – dort, wo die anderen, im besten Fall noch gesunden Zähne sitzen, die dann nach einigen Jahren ebenfalls locker werden . . .

Jürgen Grabe: „Das ist nun ein sehr spezielles Beispiel, aber wir arbeiten auch TU-intern sehr häufig interdisziplinär, und das macht mir besonderen Spaß. Der Übergang von Grundlagenforschung zur Anwendungsforschung ist oft fließend.“ wb

>> Web: https://www.tuhh.de/gbt/forschung/projekte.html