Öffentlicher Raum ohne Wohlfühlcharakter . . .

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Von Heinrich Wilke.

Unsere Innenstädte werden immer mal wieder zu Grabe getragen. Mal waren es die Fachmärkte auf der grünen Wiese, dann der Online-Handel, jetzt ist es Corona. Aber ist es wirklich der Tod? Oder doch nur ein Wandel zu etwas ganz anderem? Schauen wir etwas genauer hin.

Nahversorgungszentren mit einem starken Lebensmittelmarkt und ergänzenden Angeboten des täglichen Bedarfs genießen bei Anlegern derzeit maximales Vertrauen. „Der langfristige Lebensmitteleinzelhandels-Mietvertrag ist so etwas wie ein Bundesschatzbrief“ titelte kürzlich die renommierte „Immobilienzeitung“. Allein diese Tatsache deutet darauf hin, dass der stationäre Einzelhandel nicht als Ganzes in Gefahr zu sein scheint. Als 2007 Amazon fresh an den Markt ging, um den Lebensmitteleinzelhandel anzugreifen, hielten alle kurz die Luft an. Aber nennenswerte Marktanteile hat der stationäre Lebensmitteleinzelhandel bislang nicht verloren. Corona hat ihn eher noch stärker gemacht. Ob neue Lieferservice-Anbieter wie Gorillas oder Flink hieran etwas ändern werden, bleibt abzuwarten. Wahrscheinlich ist es nicht, denn scheinbar gehen die Deutschen gerne mindestens einmal wöchentlich auf Beutezug und packen sich ihren Kofferraum oder ihr Lastenfahrrad voll.

Mieten geben nach

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Schaut man sich die übrigen Warengruppen an, behaupten sich die wertigen A-Lagen in den Großstädten noch recht gut, auch wenn die Pandemie der vergangenen zwei Jahre einige Leerstandsspuren hinterlassen hat. Die Mieten geben zwar auch hier nach, aber wenn das Angebot vielfältig ist und die Stadt jenseits des Einkaufens viel zu bieten hat, kommen auch die Menschen und geben hier ihr Geld aus. Und wenn sich wie in Hamburg oder Lüneburg Touristen dazugesellen, läuft es noch etwas besser, denn bei denen sitzt das Geld immer etwas lockerer. Selbst in innenstadtnahen Wohnquartieren mit hoher Wohndichte und überdurchschnittlichem Einkommen wie der Hamburger Sternschanze oder Eimsbüttel wird auch zukünftig ein buntes Nebeneinander von Einzelhandel, Gastronomie und Dienstleistungen gut existieren können. Das eigentliche Problem liegt in den Neben- und Mittelzentren mit ihrem standardisierten Warenangebot und einem öffentlichen Raum ohne Wohlfühlfaktor. Aber auch in der normalen Wohnstraße und an der stärker befahrenen Ausfallstraße dürfte es sehr schwer werden, zukünftig Betreiber für die vielen Gewerbeflächen in den Erdgeschossen zu finden. Da helfen dann auch irgendwann kein Leerstandsmanagement, keine Förderprogramme, keine Business Improvement Districts (BID) und keine aufsuchenden Beratungen mehr. Für diese Bereiche geht es darum, Geschäftsräume in größerem Umfang in Wohnraum umzuwandeln. Bei Neubauten wird man hier wieder eine Vorgartenzone oder ein Hochparterre benötigen, um auch in den Erdgeschossen attraktive Wohnungen anbieten zu können.

Es geht also um die Konzentration auf die noch funktionierenden urbanen Kerne und kompakten Geschäftsbereiche. Deren Funktionsfähigkeit zu erhalten und zu transformieren, darf auch gerne als öffentliche Aufgabe verstanden werden.

Transformation der Kerne

Bis 2010 gab es ein rasantes Wachstum von Einzelhandelsflächen in Deutschland auf rund 120 Millionen Quadratmeter, also etwa 1,5 Quadratmeter pro Person. Seitdem stagniert diese Zahl. Der weitaus größte Teil davon befindet sich in den Geschäftszentren der großen Städte und in den Fachmarkt- und Nahversorgungsagglomerationen an ihren Rändern. Betrachtet man die Harburger Innenstadt mit ihren gut 100 000 Quadratmetern Einzelhandelsfläche, befinden sich fast drei Viertel davon in den „Big Four“: Phoenix-Center, Marktkauf-Center, Harburg-Arcaden und Karstadt.

Die Innenstadt der Zukunft

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Aber werden Verkaufsmaschinen dieser Größenordnung in zehn Jahren noch als solche funktionieren? Gelingt es, die Generation der Digital-Natives allein mit einem attraktiven Warenangebot anzulocken? Die Karstadt/Kaufhof-Gruppe hat damit begonnen, ihre noch vorhandenen Häuser zu modernisieren und – so der Wille – mehr Qualität zu bieten, um genau dieses Ziel zu erreichen.

Zu vermuten ist, dass eine attraktive Einkaufswelt bald nicht mehr ausreichend sein wird, um Menschen zu motivieren, ihre Couch zu verlassen. Wahrscheinlicher ist, dass die Innenstädte sich zu einem Multi-Funktionsraum entwickeln werden, in dem das Shoppen nur noch eine untergeordnete Rolle einnehmen wird. Neben einer Ausweitung der Gastronomie werden möglicherweise Freizeit–, Sport- und Life-Style-Formate in die heute noch zu teuren Innenstädte einziehen. Denn wenn der Einzelhandel seine Leitfunktion abgibt, werden die Mieten auf breiter Front nachgeben. In Verbindung mit öffentlichen Einrichtungen, Kultur- und Vergnügungsbetrieben und sehr attraktiv gestalteten öffentlichen Räumen kann dann wieder etwas spannendes Neues entstehen, das die Menschen anzieht: zum Schauen, zum Darstellen, zur Inspiration, zum Konsum, zur Entspannung, zur Kommunikation, zum Bewegen und zum Spaß haben.

Wir verlieren unsere Innenstädte nicht. Aber wir sollten sie davon entlasten, Marktplatz für Waren sein zu müssen. Spätestens die nächste Generation wird sich ohnehin alles an die Haustür bringen lassen. Und vielleicht entsteht damit eine neue Qualität. Dann bräuchte man auch keine Parkplätze mehr, um die schweren Einkäufe zum Auto zu bringen und unsere Innenstädte hätten endlich die Chance, mehr zu sein als austauschbare Fußgängerzonen mit den immer gleichen Geschäften.

π Wie sehen Sie die Zukunft des Einzelhandels? Und was erwarten Sie von unseren Innenstädten in zehn oder
20 Jahren? Schreiben Sie uns gerne:
info@derwirtschaftsverein.de