Unternehmenskultur 4.0: So wird der Chef zum Coach

Angeregte Diskussion über die neue Kultur in Unternehmen: Dr. Emre Merle (von links) moderierte die Beiträge der Experten Christopher Mars, Verena Fritzsche und Thomas Simmerl.Foto: Wolfgang Becker

NIT veranstaltet 7. Hamburger Wirtschaftsdialog: Digitalisierung ist mehr als nur ein Technologiethema – Der Abschied von der Hierarchie

Eine spannende Frage: „Haben Hie­rarchien in der Wirtschaft ausgedient?“ Zu diesem Thema hatte das Northern Institute of Technology Management (NIT) zum 7. Hamburger Wirtschaftsdialog in die Räume der Schotstek-Stiftung am Alsterufer in Hamburg eingeladen. Moderatorin Dr. Merle Emre (NIT): „Die Digitalisierung ist nicht nur ein Technik-Thema, sie steht auch für einen Kulturwandel in den Unternehmen.“ Ein dickes Brett, wie sich im Laufe des Abends herausstellen sollte, denn eine Unternehmenskultur, die über Jahrzehnte gewachsen ist und auf Hierarchiedenken basiert, lässt sich nicht mal eben auf Selbstverantwortung und Entscheidungsfreude umschalten. Daran sind viele Mitarbeiter in Unternehmen einfach nicht gewöhnt.

Die Diskussion wurde von einer kleinen Expertenrunde begleitet: NIT-Geschäftsführerin Verena Fritzsche, Coach und Berater Christopher Mars und Thomas Simmerl, Gründer der Neuen Schule Hamburg, berichteten über ihre Erfahrungen mit flachen Hierarchien. Diese funktionieren, wenn Mitarbeiter, die bislang nur Anweisungen von oben umsetzen mussten, lernen, selbst zu entscheiden. Tatsächlich scheint der Umdenkungsprozess aber nur zum Laufen zu kommen, wenn einem Unternehmen das Wasser bis zum Hals steht und allen klar ist, dass sich etwas Grundlegendes ändern muss.

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Das Beispiel Mechelen

Christopher Mars berichtete von Unternehmen, die über Jahre hinweg daran gearbeitet haben, den Kulturwandel herbeizuführen. Da wurde Vorgesetzten die Entscheidungshoheit genommen – sie sollten fortan als Coach ihrer Mitarbeiter arbeiten. Das kam nicht immer gut an. Er sagt: „Wer sich an diese Aufgabe heranwagt, der muss von der aktuellen Situation genervt sein, also richtig genervt. Das ist eine Grundvoraussetzung.“ Sein Beispiel: Bart Somers, Bürgermeister der belgischen Stadt Mechelen.

Anfang des Jahres titelte der Spiegel: „Wie Bart Somers die dreckigste Stadt Belgiens rettete . . .“ Tatsächlich hatte er es geschafft, seine im Kriminalitätssumpf untergehende Stadt mit einem weltweit beachteten Integrationskonzept wieder lebenswert zu machen. Mars: „Der Mann war zutiefst genervt. Die Polizei regierte in Mechelen, der IS hatte dort einen Stützpunkt, die Straßen waren abends leergefegt, wer konnte, wanderte ab. Was tat er? Er führte eine Selbstverwaltung ein, in der Wünsche und Vorstellungen der Bürger ernstgenommen und umgesetzt wurden. Ein Gegenmodell durch hierarchischen Verwaltung im klassischen Sinne.“ Heute, so Mars, sei Mechelen wieder eine Stadt, in der die Menschen gern lebten.

Mal sehen, was mich interessiert . . .

Szenenwechsel: Die Neue Schule Hamburg ist eine basisdemokratische Bildungseinrichtung, die alles anders macht, was an normalen deutschen Schulen üblich ist. Regel Nummer eins: Die Schüler bestimmen selbst, was sie wann lernen wollen. Wollen sie Fußball spielen, können sie das tun. Den ganzen Tag? Kein Problem. Mittlerweile interessiert sich sogar Airbus für die motivationsfördernde Arbeitsatmosphäre an der Neuen Schule Hamburg.

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Das Bild, das Thomas Simmerl von „seiner“ Schule zeichnete, ist höchst erstaunlich. Die selbstgestaltete Schule geht so weit, dass sich jedes Jahr die Lehrer bei den Schülern bewerben müssen – kommen ihre Lehrideen gut an, bleiben sie. Allerdings haben auch die Lehrer Rechte und dürfen selbstbestimmt arbeiten. Die Schüler kommen morgens zur Schule, schauen sich auf dem Flachbildschirm an, was angeboten wird, und wählen die Angebote aus, die sie interessieren. Oder auch nicht. Sie haben lediglich Anwesenheitspflicht. Auch den Zeitpunkt von Leistungsnachweisen bestimmen sie selbst.

Kreativ und selbstbestimmt

Simmerl: „Meine drei Mitgründer und ich, allesamt keine Lehrer, haben uns damals gefragt, wie es gelingen kann, die extrem hohe Lernmotivation von kleinen Kindern zu erhalten.“ Und: „Oft machen wir die Erfahrung, dass Schüler Wissen haben, aber gar nicht wissen wieso – sie haben das so nebenbei gelernt.“ Stehen Abschlussprüfungen an, ist zudem plötzlich die Motivation hoch, auch noch die bis dahin versäumten Mathe-Themen nachzuholen. Simmerl: „Dann lernen die plötzlich in drei Wochen so viel wie andere Schüler in zwei Jahren. Das ist einfach erstaunlich.“ Die Prüfungen werden übrigens von externen Stellen abgenommen. Die Lehrergebnisse müssen sich an dem allgemeinen Schulniveau messen lassen. Die Neue Schule Hamburg lehrt bis Sekundarstufe 1 (Mittlere Reife). Diese Art des motivierten Arbeitens könnte im Zuge der Digitalisierung auch Einzug in Unternehmen halten und neue kreative Kräfte freisetzen – so zumindest die These. Mars geht jedoch davon aus, dass es keinen Sinn macht, Belegschaften in Gänze umzupolen. Sein Tipp an Unternehmer, die Hierarchien abbauen wollen: „Fragen Sie, wer kreativ und selbstbestimmt arbeiten möchten. Wenn sich ein paar Mitarbeiter melden, und das werden sie tun, dann nehmen Sie die als Nukleus und fangen mit ihnen etwas Neues an.“

Verena Fritzsche: „Die klassischen Hierarchien sind Teil der alten Welt. Das funktioniert heute nicht mehr. Auch am NIT haben wir uns neu aufgestellt. Aus Lehrenden sind Lernbegleiter geworden. Wir bieten unseren Studenten viel Entscheidungsfreiheit. Darum geht es letztlich: eigene Entscheidungen zu treffen.“ Auch sie sieht wie Christopher Mars die soziale Komponente der neuen Kultur, die aus geübten „Befehlsempfängern“ kreative und verantwortliche Entscheider auf allen Ebenen machen will. Die NIT-Geschäftsführerin: „Auch am NIT haben sich die Dinge nicht von allein verändert. Wir waren an einem Punkt, an dem das alte Stipendiatensystem nicht mehr so gut funktionierte. Wir sind ein privates Institut auf dem Campus der Technischen Universität Hamburg und müssen uns selbst finanzieren. Also waren auch wir gefordert, uns zu verändern.“

Mars ist optimistisch, dass sich in den kommenden Jahren ein Kulturwechsel in den mittelständischen Unternehmen ergeben wird: „Jetzt kommt die Generation der Erben ans Ruder. Die haben eine ganz andere Empathie. Das ist eine Chance.“ wb

Web: https://www.nithh.de/de/thinktank/hamburger-wirtschaftsdialog/