Der digitale Sündenfall

B&P-REPORT
Künstliche Intelligenz im Diskurs: Mit ChatGPT hat die Digitalisierung eine neue Dimension erreicht und sogleich eine Grenze überschritten.

Mit dem Erscheinen des Textgenerators ChatGPT auf der digitalen Bühne ist die Künstliche Intelligenz (KI) ganz neu in den Fokus gerückt – und zwar nicht nur in digitalisierungswilligen Unternehmen, sondern auch in der Gesellschaft. Und sogar bei den Lesern der Klatsch-Postille „die aktuelle“ aus dem Funke-Verlag, die sich Mitte April erdreistete, eine „Weltsensation“ auf der Titelseite zu präsentieren – ein Interview mit dem mehrfachen deutschen Formel-1-Weltmeister Michael Schumacher, um dessen Zustand sich seit seinem schweren Skiunfall im Dezember 2013 regelmäßig Spekulationen ranken. Das Interview führte die Redaktion keineswegs mit Schumi selbst, die Fragen beantwortete ChatGPT, eine selbstlernende Textmaschine. In vielen süffisanten Kommentaren war von „Fake“ die Rede. Funke geriet mächtig unter Druck – nur eine Woche nach dem medialen Skandal musste Chefredakteurin Anne Hoffmann ihren Hut nehmen, wie unter anderem das ZDF vermeldete. Das allerdings ändert nichts daran, dass die Text-KI damit ihren ersten publikumsträchtigen Sündenfall erlebt hat: Der Mensch greift nach den Früchten des Baumes der digitalen Erkenntnis, die ihm fälschlicherweise das Gefühl geben, er habe Ahnung von Dingen, die er in Wahrheit gar nicht versteht.

ChatGPT steht stellvertretend für die offen geführte Diskussion über die Frage, was KI soll und darf. Dass der Präzedenzfall ausgerechnet in einem Unternehmen passiert ist, das mit Texten sein Geld verdient und für „seriöse Berichterstattung“ stehen möchte, spricht für sich. Die Wahrheit, ein fragiles, aber über Jahrzehnte immerhin hochgehaltenes Gut in der westlichen Welt, war allerdings schon schwer angeschlagen – unter anderem durch die Erfindung der „alternativen Fakten“, eine Formulierung von Kellyanne Conway, Beraterin des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, der sich nicht zierte, seinen potenziellen Wählern Alternativen zu offenkundigen Fakten anzubieten, die ihnen womöglich besser schmeckten.

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Ist „Fake“ jetzt hoffähig?

Die Erosion von „Wahrheit“ hat also eine Vorgeschichte, auch wenn jedem klar sein dürfte, dass Wahrheit ein dehnbarer und vielfach missbrauchter Begriff ist. Doch jetzt ist „Fake“ offenbar hoffähig geworden und behindert den Prozess, den jeder Mensch in Gang setzen kann, wenn er sich ein möglichst objektives Urteil bilden möchte.

Selbstverständlich verbreitet die KI keine bewussten Lügen, denn sie hat ja kein Bewusstsein. Aber: Das Internet wimmelt von Inhalten, die mit Blick auf ihre Substanz, keiner Prüfung standhielten, wohl aber im Suchkreis der KI landen dürften. Jeder darf ungeschützt veröffentlichen, was er will. Und dreht es sich um justitiable Inhalte wie beispielsweise Verschwörung, Rebellion oder Kriminalität, geht es im Dark­net weiter. Kontrolle (und vom wem überhaupt)? Nicht möglich. Die erste Internet-Generation ist mittlerweile erwachsen und häufig auch entpolitisiert, sodass sie reichlich Angriffsfläche für Rattenfänger aller Art bietet. Mit ChatGPT macht die Spirale eine weitere Drehung. Kurz vor Redaktionsschluss flogen in Hamburg Abiturienten auf, die ihre Arbeiten mit KI-Hilfe via Smartphone geschrieben haben sollen, meldete der NDR. In den Sozialen Medien feiern digitalisierungsaffine Akteure den Erhalt der ersten mit ChatGPT geschriebenen Bewerbung eines vielleicht neuen Mitarbeiters als Erfolg und werten diesen Vorgang als Quantensprung im digitalen Zeitalter. Die Zuhilfenahme von KI im Bewerbungsverfahren sei gut – der Absender habe die Herausforderungen des Digitalzeitalters begriffen. Tenor: Die Systeme sollen helfen und unterstützen. Also müsse man sie nutzen.

„Generation Blöd“ im Anmarsch

Es ist also offenbar kein Problem, eine maßgeschneiderte Bewerbung mit KI zu generieren und emotional, wissenschaftlich oder technikbegeistert so zu justieren, dass der Empfänger anbeißt. Doch was sagt so eine Bewerbung aus? Hier kommt vielleicht ein perfektes Ergebnis auf den Tisch, aber der Absender muss dem erzeugten Bild im Zweifel gar nicht entsprechen. Ein weiterer Aspekt: Heute trifft ChatGPT auf eine für Digitalisierung offene Bildungsschicht – jene Menschen also, die in der Regel einen weiten Erfahrungshorizont und viel Hintergrundwissen haben. Doch Lernen und Wissen werden immer unattraktiver, wenn austrainierte Textgeneratoren irgendwann in der Lage sind, durchgestylte Semesterarbeiten im Jurastudium auszuspucken. Was bedeutet das für die Entwicklung junger Menschen in den kommenden Jahrzehnten? Wird heute der Grundstein für die „Generation Blöd“ gelegt?

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„Der iPhone-Moment der KI“

Der „Spiegel“-Kolumnist und Digital-Experte Sascha Lobo ist für seine differenzierte Sicht bekannt und derzeit gesuchter Gesprächspartner auf allen Kanälen. Sein Statement auf LinkedIn News DACH zu den Gefahren von ChatGPT: „Angst lähmt oder führt in die Irre und ist deshalb kein zielführendes Gefühl. Nicht einmal, wenn sie eigentlich berechtigt wäre. Aber Respekt sollten wir definitiv haben, denn die Veröffentlichung von ChatGPT am 30. November 2022 war der iPhone-Moment der Künstlichen Intelligenz. Eine neue Epoche hat damit begonnen, und wir wissen noch nicht genau, was uns alles erwartet. Wir können aber schon die Umrisse eines Wandels erkennen, der ähnlich groß und intensiv werden dürfte wie die Industrialisierung. Künstliche Intelligenz wirkt nicht nur direkt auf die Gesellschaft, weil es ein neues Instrument ist, das praktisch überall eingesetzt werden wird. Sondern auch indirekt, weil wir mithilfe von KI Problemlösungen und Erfindungen sogar in nichtdigitalen Bereichen entwickeln werden, die man heute noch für unmöglich hält.“ Lobo im ZDF-Interview: „Wenn wir in 15 oder 20 Jahren noch ein reiches Land sein wollen in Deutschland, dann müssen wir jetzt KI mit voller Kraft umarmen.“

Großes Thema für die Hochschulen

Die Hochschulen breiten die Arme bereits aus: „Künstliche Intelligenz und Programme wie ChatGPT werden ein Teil des Alltags an Hochschulen werden. Wir müssen die Chancen ausloten, die KI-Anwendungen für Lehre und Forschung bieten, eine Diskussion auch über die Risiken führen und für unsere Studierenden und unsere Dualen Partner einen möglichst großen Nutzen aus den Möglichkeiten ziehen, die ChatGPT und Co. bieten“, sagt Boris Alexander Kühnle, Direktor des Masterinstituts der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Karlsruhe. Für Stephan Schenkel, Rektor der DHBW Karlsruhe, spielt die Vermittlerrolle der Hochschulen eine nicht minder wichtige Rolle: „KI ist für uns als Hochschule an der Schnittstelle von Theorie und Praxis eine zentrale Zukunftstechnologie, gerade weil sie das Potenzial bietet, ganze Berufsfelder zu verändern. Entscheidend ist dabei für uns die Vermittlung von Kompetenzen zum Umgang mit Künstlicher Intelligenz.“

Neuer Ausbildungsberuf

Immersive Medien wie Augmented oder Virtual Reality kommen immer mehr zum Einsatz. Parallel dazu steigt auch die Nachfrage nach qualifizierten Fachkräften in diesem Bereich, weiß „Hamburg News“ Ende Mai und informiert über den neuen dualen Ausbildungsberuf „Gestalter:in für immersive Medien (GiM)“, der künftig eine wichtige Rolle in der digitalen Transformation spielen soll. Die Berufliche Schule Farmsen Medien Technik (BS 19) im Nord­osten Hamburgs war im Rahmenlehrplanausschuss federführend an der Entwicklung des neuen Berufs beteiligt. Der erste Jahrgang startet ab August 2023.

Die disruptive Seite

Das Vordringen der KI dürfte sich in den Branchen unterschiedlich stark auswirken. Apokalyptische Kommentatoren malen ein Schreckgespenst an die Wand: den Verlust von zig Millionen Arbeitsplätzen in Europa. Noch ist allerdings nicht deutlich abzulesen, auf welchen Feldern die neue Technologie disruptiv, also verdrängend/zerstörend zuschlagen wird. Anfang Mai berichtete die „Welt“ von einem Aktienbeben auf den Finanzmärkten, nachdem der Online-Lerndienst Chegg zugegeben hatte, dass ChatGPT das Geschäftsmodell disruptiert. Prompt brachen die Aktien von Chegg um 50 Prozent ein, was sich auch negativ auf die Papiere anderer Bildungsanbieter ausgewirkt habe, so die „Welt“. Tatsächlich brach der Chegg-Aktienkurs von Dezember (28,43 Euro) bis zum 1. Mai (7,97 Euro) noch viel stärker ein und erholte sich in den Folgetagen nur unwesentlich.

Journalismus auf dem Prüfstand

Die Medien wurden hier schon als KI-Nutzer erwähnt. So veröffentlicht das Finanzmagazin „Cash“ sogar Interviews mit GhatGPT, die allerdings im Gegensatz zum eingangs beschriebenen Promi-Missbrauch klar als solche gekennzeichnet sind. Wozu künftig noch Menschen befragen, wenn doch die Maschine alles weiß? Das dachte sich wohl auch Burda und ließ das neue Extraheft „Lisa Kochen & Backen“ mit
99 Pasta-Rezepten weitestgehend von KI erzeugen, ohne die Texte entsprechend zu kennzeichnen, berichtet die „Süddeutsche“. Ein Sprecher habe demnach bestätigt, das Heft sei „mithilfe von ChatGPT und Midjourney erstellt worden“. Hinweise fehlten, weil die Zielgruppe das Magazin „neutral rezipieren“ sollte. Es habe sich um ein „Experiment“ gehandelt, die Texte hätten jedoch noch menschliche Überarbeitung gebraucht.

„Nicht nur der Journalismus wird sich durch KI radikal verändern, sondern auch Kunst, Musik, Schriftstellerei. Die kulturellen Grundlagen unserer Gesellschaft müssen neu definiert werden. Was verstehen wir künftig unter Authentizität, Individualität, Kreativität, Originalität? Keiner dieser Begriffe versteht sich noch von selbst.“, schreibt der Journalist Malte Lehming in einem KI-Essay für den Berliner „Tagesspiegel“. „Ich kann dem Programm sagen, dass es einen Text schreiben soll im Umfang von 3000 Anschlägen im Stil von Malte Lehming vom Tagesspiegel über das Thema Religionsfreiheit. Das Resultat dauert etwa 20 Sekunden, ist fast auf die Zeile genau lang, allerdings etwas allgemein gehalten. Interessanter wird es, wenn die Eingabe präziser ist, etwa zum Thema ‚Religionsfreiheit in den USA‘.“ Und: „Wer bin ich als Autor, Komponist, Schriftsteller oder Maler, wenn meine Werke auch eine Maschine machen kann? Wenn diese Maschine alle meine Texte kennt, weiß sie mehr über mich als ich selbst, der sich nur an einen Bruchteil erinnert.“

Mehr Zeit für die Kernaufgaben

Von der philosophischen Betrachtung zurück zu den Unternehmen, die sich langsam an die KI herantasten: Vor allem in den Personalabteilungen scheint KI bereits angekommen zu sein, wie es in der Reihe „LinkedIn TopCompanies“ heißt. So schreibt etwa das Maschinenbauunternehmen Palfinger AG, dass Recruiter durch den Einsatz von smarter Software mehr Kapazitäten für ihre eigentlichen Kernaufgaben hätten, wie etwa die Entwicklung von Strategien gegen den Fachkräftemangel.

Verwaltung liebäugelt mit KI

Im Verwaltungsbereich gibt es offenbar auch kaum Berührungsängste: Mit dem Ziel, KI-Start­ups und Verwaltung zusammenzubringen und Anwendungsmöglichkeiten von Marktlösungen zu diskutieren, haben die Hansestadt Hamburg und der Artificial Intelligence Center Hamburg e. V. (ARIC) ein Memoran­dum of Understanding unterzeichnet. Im Fokus stehen Anwendungen aus dem Bereich Government Technology (auch: GovTech). Darunter werden insbesondere Startups und innovative Unternehmen verstanden, die im weiteren Sinne digitale Produkte und Dienstleistungen für Staat und Verwaltung erbringen.

 Mittlerweile ist auch die Politik auf das Thema eingestiegen. Die Bundesregierung will offenbar den Einsatz von KI am Arbeitsplatz regulieren, wie die „Süddeutsche Zeitung“ Mitte Mai meldete. Der erste Entwurf soll bereits im Sommer kommen. Derweil hat sich das EU-Parlament Mitte Juni auf ein Gesetz zur KI-Regulierung geeinigt. Es verbietet Anwendungen mit hohem Risiko für die Sicherheit – etwa Gesichtserkennung. Der sogenannte AI Act ist das weltweit erste seiner Art, wie die „Tagesschau“ online meldete.