Es steht viel auf dem Spiel

Glühender Appell pro Europa: Sigmar Gabriel begeisterte die 300 Zuhörer beim 29. Europaabend des AGA Unternehmensverbands im Börsensaal der Handelskammer Hamburg.

29. Europaabend des AGA Unternehmensverbands in Hamburg: Sigmar Gabriel über die Situation in Europa, die Rolle Deutschlands und die imperial überdehnten USA

Er war Ministerpräsident in Niedersachsen, Bundesumweltminister, Bundeswirtschaftsminister, Außenminister, Vizekanzler und SPD-Bundesvorsitzender: Mit Sigmar Gabriel präsentierte der AGA Unternehmensverband beim 29. Europaabend im Börsensaal der Hamburger Handelskammer ein politisches Schwergewicht im Ruhemodus. Gabriel hat heute keine politischen Ämter mehr – was nach seiner Rede so mancher der 300 geladenen Gäste im Saal bedauert haben dürfte, denn was der Ehrengast zu sagen hatte, ging unter die Haut und stimmte nachdenklich. Dabei hatte Dr. Hans Fabian Kruse, Präsident des AGA, das Feld in seiner Begrüßungsrede bereits gut vorbereitet und auf die teils bedenkliche Nachrichtenlage mit Themen wie Brexit, Strafzölle, Nationalismus und internationale Wirtschaftskrisen hingewiesen. Er sagte dennoch den schönen Satz: „Wer in Europa unterwegs ist, findet überall ein Stück Heimat“. Folgt man Gabriel, ist diese Heimat an vielen Fronten bedroht – und deshalb umso schützenswerter.

Gabriel startete seinen Vortrag mit einer rhetorischen Frage: „Welche Botschaft zu Europa senden wir in unser eigenes Land? Ist alles schlecht? Oder haben wir Grund, stolz zu sein?“ Die Antwort gab es selbst: „Ich sage den Menschen: Lasst euch nicht irritieren! Wir haben das beste Deutschland, das es in der Geschichte des Landes jemals gegeben hat. Darauf kann man stolz sein und es den Leuten sagen, die täglich in diesem Land ihre Arbeit machen.“

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Aus Feinden wurden Freunde

Für Gabriel ist wirtschaftlicher Erfolg „eine der zentralen Voraussetzungen, um Europa durch diese Zeit zu bekommen“. Und alle Europäer sollten sich einmal daran erinnern, welchen Schatz sie mit Europa tatsächlich haben. Gabriel: „Gibt es irgendeinen Ort auf der Welt, an dem Nationen so friedlich miteinander leben? Da wird Ihnen nichts einfallen. In Europa sind aus erbitterten Feinden erst Partner, dann Freunde geworden. So einen Ort finden wir nirgendwo sonst auf der Welt. Und dass wir Deutsche nach den beiden Weltkriegen zu diesem Projekt eingeladen wurden, erforderte viel Mut.“ Die Väter von Europa hätten gewusst, dass es hier um Leben und Tod ging. Sie wollten keinen dritten Weltkrieg riskieren. Gabriel weiter: „Mitterand hat damals gesagt: Nationalismus bedeutet Krieg. Daran müssen wir uns erinnern, in einer Zeit, in der Nationalismus in vielen Ländern Europas wieder an Attraktivität gewinnt. Es steht viel auf dem Spiel.“

Aus Sicht des SPD-Politikers steht Europa erstmals an der Schwelle, an der es scheitern könnte. Das Staatenbündnis sei ganz wesentlich eine Erfindung der Amerikaner gewesen, heute stehe das trans­atlantische Bündnis mit den USA zur Disposition. Gabriel: „Das, was Trump, und vor ihm schon Obama, kritisiert, nämlich die wirtschaftliche Stärke Europas, war damals bewusst so angelegt worden, um uns zu integrieren. Heute fühlen sich die USA ‚imperial overstretcht‘.“

Die USA werden sich verändern

Dieser Begriff aus der Staatstheorie meint die imperiale Überdehnung von großen Mächten, die geopolitisch überall präsent sind, sich zugleich aber materiell überfordert sehen. In der Folge tritt nationale Stärke an die Stelle internationaler Regeln – live beispielsweise zu beobachten in den separatistischen Ansetzbewegungen der Trump-Administration mit Blick auf WTO und Nato. Gabriel sieht die Rückzugsbewegungen der USA und prognostiziert. „Die USA werden sich verändern. Schon in einigen Jahren werden die Amerikaner nicht mehr mehrheitlich europäische, sondern asiatische, lateinamerikanische und afrikanische Wurzel haben.“

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Kurz: Auf den transatlantischen Partner als Weltpolizei ist absehbar kein Verlass mehr. Gabriel gab mehrere Beispiele für Rückzugsbewegungen der USA aus Krisengebieten und folgert daraus: „Wir werden uns einmischen müssen.“ Im Sinne von mehr Verantwortung übernehmen. Dazu müssten gerade die Deutschen lernen, dass Europa nicht aus wenigen Großen, sondern auch vielen Kleinen bestehe. „Wir müssen uns in die Schuhe der kleinen Mitgliedsstaaten stellen, um die zu verstehen.“ Nicht alles, was in Deutschland als große Errungenschaft gefeiert wird, kommt bei den kleineren Nachbarn gut an. Und: Für Polen sei die nationalstaatliche Frage beispielsweise eine ganz andere als für Deutschland – eine Folge der Geschichte, in der Polen phasenweise gar nicht mehr existierte.

Wir sind die Nettogewinner

Gabriel weiter: „Und wir müssen aufhören, die falschen Geschichten zu erzählen: Wir sind nicht die Nettozahler der EU, sondern wir Deutschen sind die Nettogewinner der EU. Und wir werden einen Teil unseres Wohlstandes in die EU reinvestieren müssen – in Bildung, Sicherheit und Entwicklungspolitik.“ Weiter: „Durch Europa haben alle mehr – auch die, die mehr geben.“ Gabriels Appell an die versammelten Wirtschaftsvertreter: „Reden Sie darüber mit Ihren Mitarbeitern! Zum Beispiel bei der nächsten Betriebsversammlung.“ wb

>> Web: www.aga.de