„Wir regulieren uns zu Tode“

Volker Tschirch, Hauptgeschäftsführer des AGA Unternehmensverbandes, beim Interview mit B&P-Redakteur Wolfgang Becker. Foto: Christian Ströder

INTERVIEW AGA-Hauptgeschäftsführer Volker Tschirch kommentiert das drohende Arbeitszeiterfassungsgesetz

Der alltägliche Wahnsinn hat einen Namen: Bürokratie. Allein die durch den Bund verursachten Bürokratiekosten für die deutsche Wirtschaft beliefen sich nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes auf fast 43 Milliarden Euro – und das war 2015. Mit fast 3700 Informationspflichten lag das Finanzministerium dabei weit vorn, gefolgt vom Ministerium für Justiz und Verbraucherschutz mit weiteren 898 Informationspflichten. Diese Liste ließe sich milliardenschwer fortführen, aber statt zurückzuschauen, ist jetzt der Blick nach vorn gefordert, denn das nächste Bürokratiemonster steht bereits vor der Tür. Es geht um das geplante Arbeitszeiterfassungsgesetz. Diese Idee wurde immer mal wieder diskutiert, aber seit der Europäische Gerichtshof im Mai 2019 in einer Grundsatzentscheidung feststellte, dass die EU-Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet sind, rechtliche Vorschriften zu schaffen, nach denen Unternehmen ein „allgemeines System zur Arbeitszeiterfassung aller Beschäftigen“ bereit halten müssen, ist nun ordentlich Dampf auf dem Kessel. Grund: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat der Lethargie ein Ende bereitet, indem es die bereits bestehenden rechtlichen Regelungen zum Arbeitsschutz neu interpretierte. Im September dieses Jahres stellte das BAG fest, dass Arbeitgeber in Deutschland schon heute verpflichtet sind, ein Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen. Über die EU-Arbeitszeitrichtlinie und das, was jetzt verstärkt auf die deutschen Unternehmen zurollt, sprach B&P-Redakteur Wolfgang Becker mit Volker Tschirch, Hauptgeschäftsführer des AGA Unternehmensverbandes.

Haben Sie heute Morgen schon gestempelt?

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Die Renaissance der Stempeluhr ist völlig aus der Zeit gefallen. Wenn man bedenkt, dass das eine Idee aus der Blütezeit der Industrialisierung ist, die damals auch ein berechtigtes Anliegen war, gelingt es hier jetzt ein weiteres Mal, eine Sache zu regeln, die vor Jahrzehnten ein Problem war, heute aber keins mehr ist.

Sollten wir nicht eher über flexible Arbeitszeiten und Homeoffice sprechen? Und nun kommt so ein Gesetzesanliegen hoch. Wie soll das eigentlich gehen?

Es hätte ja kaum jemand angenommen, insbesondere nicht unsere Sozialpartner die Gewerkschaften, dass wir in der Pandemie so schnell auf mobile Arbeit umstellen können. Unsere Beschäftigten können vielfach von zu Hause aus oder von unterwegs so erfolgreich arbeiten. Das hat den Unternehmen gezeigt, dass sie sich auf ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlassen können. Und dass Vertrauensarbeitszeit auch bei mobiler Arbeit eine absolute Berechtigung hat.

Und mittlerweile auch ein Thema in Bewerbungsgesprächen ist . . .

Vor dem Onboarding fragen heute alle Jüngeren, wie das mit mobiler Arbeit geregelt ist. Wenn möglich, ist es attraktiv. Wenn dagegen Büropräsenz gefordert ist und das möglichst von sehr früh bis sehr spät, dann steigen insbesondere diese jungen Bewerberinnen und Bewerber sofort aus. Aber die europäische Ebene macht uns Vorgaben. Seit 2018/19 rechnen wir mit dem Thema Arbeitszeiterfassung.

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Seitdem liegt das Thema aber auch irgendwo in Berlin ganz gut versteckt im Schrank, oder?

Wenn es da bliebe, wäre es ja gut, aber es wird herausgeholt werden. Der Bundesgesetzgeber ist gefordert, etwas zu tun. Der signifikante Unterschied zwischen den Ebenen: Der europäische Gesetzgeber fordert, dass es eine Systematik für eine Arbeitszeiterfassung geben muss. Ob die dann wirklich detailliert scharfgeschaltet werden muss und wie, ist nicht geregelt. Der nationale Gesetzgeber wird, so befürchten wir, vermutlich nicht unserer Empfehlung folgen, sondern eine sehr detaillierte Regelung mit akribischer Arbeitszeiterfassung vorlegen.

Wäre das so ein großes Problem?

Es geht uns nicht darum, unbezahlte Mehrarbeit zu erschleichen, sondern: Schon heute werden wir gerade im Arbeits- und Personalrecht derart mit Dokumentationspflichten überzogen, dass Personalarbeit einfach keinen Spaß mehr macht. Bürokratie kostet Kreativität, kostet Leistungsfähigkeit und letztlich auch wirtschaftliche Erträge. Wir bekämpfen nicht die Arbeitszeiterfassung, sondern zusätzliche bürokratische Belastungen.

Wie lautet denn der Vorschlag des AGA Unternehmensverbandes?

Den Arbeitgebern und den Beschäftigten die Freiheit zu lassen, es selbst zu regeln. Wenn Betriebe die Zeit erfassen wollen, weil es beispielsweise um industrielle Fertigung geht, oder Zeiten aus Sicherheitsgründen – wer ist noch im Gebäude? – gerade auch in Hinblick auf Haftungsrisiken erfasst werden müssen, dann sollen sie das tun. Aber im Dienstleistungsbereich oder in der Kreativwirtschaft, wo Menschen frei arbeiten können, da halten wir eine Zeiterfassung für überzogen – gerade, weil die dann wieder dokumentiert werden müsste. Wir regulieren uns zu Tode, erleben aber im Moment eine Renaissance der Regulierungswut und der Regulierungslust. Das lenkt die Unternehmen von ihrem Kerngeschäft ab.

Haben Sie ein Beispiel?

Nehmen wir mal das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das Unternehmen erhebliche Dokumentationspflichten auferlegt, aber nirgends in der Welt dazu führt, dass sich Arbeitsbedingungen, Sozialstandards und Umweltstandards verbessern.

Meine These ist: Wenn wir die Bürokratie halbieren, werden wir die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft mindestens verdoppeln.

Gibt es schon Hinweise auf konkrete Inhalte des angekündigten Gesetzes?

Bislang kennen wir noch nicht einmal die Begründung des BAG-Urteils. Wir bleiben aber sehr wach, den Prozess zu begleiten, sind mit dem zuständigen Ministerium in Kontakt und versuchen zu überzeugen, uns die notwendige Flexibilität zu belassen.

Hätte Deutschland aus Ihrer Sicht allein die Initiative übernommen, wenn es das EuGH-Urteil nicht gegeben hätte?

Vermutlich nicht.

Wann rechnen Sie mit dem Gesetz?

Hier gilt: Wir werden nicht nervös, wenn die Regelung nicht sofort kommt. Wenn wir uns Zeit lassen, ist das für alle Beteiligten ein Vorteil . . .


Web: www.aga.de