Big Mother is watching you

Martin MahnMartin Mahn ist der Geschäftsführer der Tutech Innovation GmbH und der Hamburg Innovation, den beiden Unternehmen Hamburgs für Wissens- und Technologietransfer. Foto: Tutech

Mahns Meinung – Kolumne von Martin Mahn, Geschäftsführer der Tutech Innovation GmbH und der Hamburg Innovation GmbH

Am Wochenende kommt Besuch zum Abendessen. Im Supermarkt lade ich drei Flaschen Rotwein aus ökologischem Landbau in den Einkaufswagen. „Nanana­nana!“ tönt es sanft, aber vorwurfsvoll aus dem Personal Speaker, der in meiner smarten Brille verbaut ist. „Wir wollen doch nicht übertreiben, oder? Zwei reichen auch für sechs Personen!“ Schuldbewusst stelle ich eine Flasche wieder ins Regal zurück. „Na also, geht doch“, säuselt die Stimme und das aufdringliche Blinken an meinem Handgelenk verlischt.

Es wird trotzdem ein schöner Abend – dank stiller Reserven aus dem Keller. Nur der nächste Morgen wird es nicht, vom Kater mal ganz abgesehen. Mein Handy vibriert im Stakkato. Und die eWrist blinkt wie wild. Sie will mir was sagen. Habe aber den Ton abgeschaltet. Ich öffne die Nachricht. Sie kommt von einer App. Der der Krankenversicherung. Gestern seien es dann doch über 0,8 Promille gewesen – online gemessen und nachgewiesen. Daher hätte ich im nächsten Monat 15 Prozent mehr Beitrag zu zahlen. Es sei denn, ich würde den Rest des Monats kompensieren. Und die verbleibenden 19 Tage nur noch Tee trinken (bevorzugt Detox, Pfefferminz oder grün). Andere Rauschmittel inklusive Kaffee ausgeschlossen.

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Aus der Nummer komme ich wohl nicht mehr raus. Im Haus, im Büro, im Auto, eigentlich immer da, wo wir und die mit uns verbundenen Geräte sind, werden wir ständig überwacht. Okay, mit einer Ausnahme: in der Bahn (das ergibt übrigens ein ganz neues Alleinstellungsmerkmal). Und wissen wir, was die Dinger machen, wenn sie (und wir) mal still sind? Ja, wissen wir: in der Regel zuhören. Ob absichtlich oder versehentlich durch einen Bug im Code ist doch nebensächlich. Das ist der große Lausch­angriff, tatsächlich. Und zwar freiwillig, denn es zwingt uns ja keiner, die Dinger zu benutzen. Ein gewisser George Orwell hätte sich wohl im Grabe umgedreht. Mehrfach.

Siri, Alexa, Cortana und wie sie alle heißen . . . Big Mother is watching you. Warum eigentlich nicht auch mal Markus oder Heiko? Oder Donald? Wladimir? Offenbar hat die Gleichstellung im digitalen Raum noch Defizite. Oder brauchen wir das so? Das sanfte Säuseln einer weiblichen Stimme? Mutterbezug? Geborgenheit? Oder ein ähnlicher Ansatz wie früher bei Stürmen (Tiefdruckgebiete haben sich allerdings inzwischen emanzipiert)? Und wäre ein „Hey Recep – sag mir, was ich wählen soll“ am Ende des Tages nicht auch viel authentischer? Wahrscheinlich. Aber solange ich noch wählen kann, entscheide ich mich doch lieber für ein „Salve
Bacchus – haben wir noch Rotwein im Keller?“

Fragen an den Autor? mahn@tutech.de