Mehr Souveränität wagen!

NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst war der Festredner des Europaabends. Quelle: Krafft Angerer

Ministerpräsident Hendrik Wüst hält pointierte Rede beim AGA Europaabend

V iele sehen in ihm bereits den nächsten Bundeskanzler: Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst positioniert sich schon länger mit bundes- und europapolitischen Themen und findet dabei häufig breiten Zuspruch. Auch beim 34. Europaabend des AGA Unternehmensverbands im Hamburger Elysée-Hotel fand er deutliche Worte für die aktuelle politische Lage. 

Zunächst aber stimmte AGA-Präsident Dr. Hans Fabian Kruse die etwa 300 Besucher auf den Inhalt der Festrede ein. Unter Verweis auf das Motto des Abends „Einigkeit in Vielfalt“ betonte er, dass es Europa auch in herausfordernden Zeiten stets gelungen sei, geeint zu bleiben und die Vielfalt als Stärke zu nutzen. Doch nun sei ein neues, dunkles Kapitel europäischer Geschichte aufgeschlagen worden: „Der brutale Überfall Russlands auf die Ukraine hat schonungslos aufgezeigt, dass wir uns sicherheitspolitisch und wirtschaftlich breiter aufstellen müssen. Die Zeitenwende darf nicht zur Anekdote für Sonntagsreden verkommen, sie muss von uns allen auch gelebt werden.“

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„Verlässliche Partner suchen“

Mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen genüge der Fokus allein auf den europäischen Binnenmarkt nicht. „Für Wachstum müssen wir in Europa – und vor allem als Exportnation Deutschland – auch auf den freien Handel mit anderen Regionen der Welt setzen und uns zusätzliche, verlässliche Partner suchen.“ Von der Politik forderte Kruse „Pragmatismus, Verhältnismäßigkeit und Augenmaß.“

Nach dieser kurzen Vorrede betrat dann Hendrik Wüst die Bühne. „Es wäre jetzt ein Leichtes, heute Abend die üblichen Redebausteine für Europareden zu verwenden“, so der Ministerpräsident. Aber es gebe da ein Problem, jedenfalls auf der politischen Ebene. „Und das Problem ist die Realität. Wir Deutsche halten uns für gute Europäer, vielleicht sogar für die allerbesten, aber man muss auch mal fragen, ob das wirklich so ist.“ In Brüssel oder in anderen Hauptstädten habe man in der Vergangenheit für viel Frustration gesorgt. „Und zwar nicht erst seit dem Regierungswechsel, sondern schon deutlich früher“, beleuchtete er auch die Rolle seiner CDU kritisch. 

Als Beispiel nannte Wüst die Energiepolitik. „Die Warnung vor einer Abhängigkeit von russischem Gas hat es auch vor 2022 gegeben, vor allem von unseren Partnern in Osteuropa, die historisch noch schmerzhaftere Erfahrungen mit Russland gemacht haben. Diese Warnung haben wir beiseite gewischt.“ Und auch bei der aktuellen Energiewende habe man sich nicht mit den europäischen Partnern koordiniert.

Ähnliches gelte für die Migrationspolitik. Man müsse zurück zur Gemeinsamkeit kommen, „von der auch wir Deutschen maßgeblich profitieren werden“, so Wüst.“Wir hab en zweifelsfrei unsere Stärken und ohne ein starkes Deutschland gäbe es auch kein starkes Europa. Aber es würde uns an vielen Stellen, glaube ich, gut zu Gesicht stehen, etwas demütiger aufzutreten.“ Aus diplomatischen Kreisen habe der Ministerpräsident beispielsweise erfahren, dass Deutschland sich bei EU-Abstimmungen in jüngster Zeit oft enthalte, weil die Abgesandten keine klare Weisung aus Berlin erhalten hätte. „Auch da sind wir also kein Musterschüler.“ 

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Klar sei für ihn, dass spätestens nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine die Agenda der nächsten Wahlperiode im Europaparlament eine völlig andere sein müsse. „Sie muss auf Wachstum und Sicherheit ausgerichtet sein. Wir nennen das gern Resilienz, die Franzosen sagen Souveränität, aber am Ende ist es das Gleiche.“ 

Er selbst sei 14 Jahre alt gewesen, als die Mauer fiel. „Es war eine besonders prägende Zeit voller Glück und voller Hoffnung. Aber gerade in den letzten Monaten haben wir eine Lektion lernen müssen, die wehgetan hat.“ Nach der zwischenzeitlichen Gutgläubigkeit und Naivität müssten Deutschland und Europa nun wieder lernen, auch sicherheitspolitische Debatten zu führen und auszuhalten. „Viele weitere Themen, die in anderen Ländern nie im Sinne der Friedensdividende eingestellt worden sind, müssen wir wieder hochfahren. Was machen wir eigentlich, wenn Donald Trump wieder US-Präsident wird und wenn er von einem Tag auf den anderen sagt, dass er die Ukraine-Hilfe einstellt?“

Helmut Kohl habe sich immer auf die europäische Tradition berufen, den europäischen Zusammenhalt zu fördern und ganz besonders die kleinen Partner mitzunehmen. „Diesen Geist brauchen wir wieder stärker in der deutschen, in der europäischen Realität. Das, was wir benötigen, ist ein Deutschland, das nicht sich lauthals tönend für einen Musterschüler hält, sondern ein wahrhaft europäisches Deutschland ist, das gemeinsam mit anderen Probleme angeht und löst und nicht selber welche schafft.“

Nach dem anhaltenden Applaus der Gäste wurde das dreigängige Festmenü serviert. Anschließend klang der 34. Europaabend bei Getränken und Musik des kleinen Ensembles der Hamburger Camerata aus. top

>> Web: www.aga.de