„Auf Corona war die Welt nicht vorbereitet“

Volker Tschirch, Hauptgeschäftsführer des AGA Unternehmensverbandes.

INTERVIEW Volker Tschirch, Hauptgeschäftsführer des AGA Unternehmens­verbandes, über den dramatischen Einbruch und die neue Zuversicht

Der AGA Unternehmensverband hat mehr als 3500 Mitglieder in Norddeutschland und betreut schwerpunktmäßig Unternehmen aus den Bereichen Groß- und Außen­­handel, Einzelhandel sowie Dienstleistungen. Branchen, die durch den Corona-Shutdown besonders hart betroffen sind. In der Folge stieg der Beratungsbedarf bei den Unternehmen immens an und forderte die AGA-Experten immens. Mit Volker Tschirch, Hauptgeschäftsführer des AGA Unternehmensverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistung und Geschäftsführender Vorsitzender des Einzelhandelsverbandes VMG Nord, sprach B&P-Redakteur Wolfgang
Becker im Mai.

Wie stellt sich die Situation aus heutiger Sicht dar? Haben Sie bereits Rückmeldungen über Insolvenzen? Bricht da gerade eine über Jahrzehnte aufgebaute und bewährte Branchenstruktur zusammen? Insbesondere mit Blick auf die vielen Im- und Exportunternehmen?

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Die Lage im norddeutschen Groß- und Außenhandel ist weiterhin dramatisch. Noch nie in ihrer Geschichte hat diese Wirtschaftsstufe einen solchen Einbruch erlebt. Im Einzelhandel hat der Lockdown unter anderen die Bereiche Mode, Elektro und Möbel hart getroffen. Umsätze, die teilweise schlicht verloren sind. Im Dienstleistungsbereich berichteten uns Personaldienstleister von schwierigen Situationen. Private Bildungsanbieter konnten bis weit in den Mai kaum noch arbeiten, Messebauern und Eventveranstaltern fehlt noch bis in den Sommer jede Perspektive. Unsere Mitglieder bleiben aktuell noch von Insolvenzen verschont. Das liegt aber auch sicherlich daran, dass die Insolvenzantragspflicht für betroffene Unternehmen zunächst bis zum 30. September 2020 ausgesetzt wurde. Das könnte also noch ein böses Erwachen geben.

Doch davon gehen wir nicht aus, denn wir spüren neue Zuversicht bei den Unternehmen. Familienunternehmen sind krisenerprobt, sie haben schon viele schwierige Situationen erlebt und überstanden, wie beispielsweise die Lehman-Pleite oder auch die Eurokrise. Und auch diese Wirtschaftskrise werden die meisten überstehen, denn mittelständische Unternehmen reagieren flexibel, suchen sich neue Wege, sind dabei innovativ und immer optimistisch. Dieses Mal werden allerdings die Narben viel tiefer sein als bei den vergangenen Krisen.

Die Bundesregierung hat umgehend Förder- und Hilfsmaßnahmen in Gang gesetzt. Viele Verbände und Kammern bilden zudem mit Beratungs- und Unterstützungsangeboten eine Art Auffangnetz im Krisenfall (siehe auch Seiten 4/5). Kommt die Hilfe bei den Unternehmen an?

Das Herzstück unserer Verbände ist die Beratung – nicht nur in Krisenzeiten. Unsere Aufgabe in der Corona-Pandemie war und ist es, Förder- und Hilfsmaßnahmen der Regierungen zu erklären und zu beraten, welche Leistung für welches Unternehmen die richtige ist. Vor allem die sogenannten Soforthilfen sind schnell ausgezahlt worden. Für den Mittelstand und seine Beschäftigten ist das Kurzarbeitergeld in der laufenden Wirtschaftskrise die stärkste Hilfe, um Arbeitsplätze und so das Unternehmen zu sichern. Das war ein ganz wesentlicher Beratungsschwerpunkt – individuell und online in unseren Webinaren.

Auch der AGA gehört, um im Bild zu bleiben, zu diesem Auffangnetz und bietet vielfältige Expertise. Mit welchen Anforderungen wurden Sie insbesondere konfrontiert?

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So eine Situation, wie sie ab Mitte März herrschte, haben selbst die erfahrensten Anwälte bei uns noch nicht erlebt. Unsere Mitglieder benötigten von jetzt auf gleich Unterstützung – und unglaublich viele zur selben Zeit. Wir haben sofort reagiert und vor allem an drei Fronten gekämpft:

  1. Individuelle Beratung: Die AGA-Anwälte haben jeden Tag bis zu 14 Stunden unsere Mitglieder beraten. Wie beantrage ich Kurzarbeitergeld, wie regeln wir mobiles Arbeiten, welche juristischen Feinheiten habe ich zu beachten?
  2. Relevante Informationen: Unsere Website wurde eine Plattform für aktuelle Informationen, die täglich mehrfach überarbeitet wurden. Muster, Merkblätter, Vereinbarungen haben wir für den praktischen Gebrauch in den Unternehmen zur Verfügung gestellt. Innerhalb von kürzester Zeit haben wir Webinare angeboten mit den drängendsten Fragen rund um Corona und auch ganz praktische Sachen wie „Arbeiten mit Zoom & Teams“. Wir haben viele Leistungen auch für Nichtmitglieder geöffnet. Wir wollten unkompliziert helfen, wo Hilfe benötigt wurde.
  3. Politische Kontakte: Wir sind die ganze Zeit mit den Entscheidern auf Bundes- und Länderebene in engem Kontakt. Das wechselseitige Interesse am Informationsaustausch war selten so ausgeprägt. Wir konnten auf Fehlentwicklungen hinweisen und über die Lebenswirklichkeit im Mittelstand – gerade anhand unserer Mitgliederumfragen – Auskunft geben. Ein Beispiel: Durch Intervention bei den Landesregierungen in Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern konnten wir erreichen, dass die Baumärkte schnell wieder für den Publikumsverkehr geöffnet wurden, nachdem sie dort vorübergehend geschlossen worden waren.

Kurzarbeitergeld, Überbrückungshilfen, Notkredite, Mietstundungen – eine ganze Reihe von Maßnahmen ist denkbar, muss aber auch, nicht zuletzt Hand in Hand mit den Behörden, umgesetzt werden. Corona hat jedoch eine Art Tsunami ausgelöst, da an allen Fronten zeitgleich Handlungsbedarf entstanden ist. Hält das Netz?

Wir waren positiv überrascht, wie schnell die Hilfen bei den Unternehmen angekommen sind. Wenige Wochen nach Beginn des Lockdowns gaben bei einer AGA-Umfrage fast die Hälfte der norddeutschen Betriebe an, dass die versprochenen Hilfen schon bei ihnen eingetroffen sind. Auch die Arbeitsagenturen machen einen herausragenden Job – zuverlässig in der Beratung und schnell in der Abwicklung der Anträge. Und das trotz eines hohen Arbeitsaufkommens und vielfach erschwerten Bedingungen. Respekt.

Wie wirkt sich die Pandemie auf internationale Handelsbeziehungen aus?

Schon vor Corona waren die internationalen Handelsbeziehungen angespannt, ich denke da an das Verhältnis zwischen den USA und China, aber auch zwischen den USA und Europa hatten wir schon bessere Zeiten. Das funktionierende System der globalisierten Welt hat Risse bekommen. Es haben sich viele Staaten durch die Corona-Pandemie zusätzlich abschotten müssen. Gerade jetzt wäre es wünschenswert, wenn Zölle und Handelshemmnisse abgebaut würden und Grenzen zumindest für den Warenverkehr offen blieben. Die Corona-Pandemie hat zu einem massiven Einbruch des Welthandels geführt. Unsere weltweiten Lieferketten sind stark beeinträchtigt. Laut WTO müssen wir mit einem Einbruch des Welthandels zwischen 13 Prozent und sogar mehr als 30 Prozent rechnen. Das sind zunächst keine guten Aussichten.

Welche konkreten Lehren zieht der AGA Unternehmensverband aus dieser Krise?

Auf Corona war die Welt nicht vorbereitet. Kaum jemand konnte sich noch vor wenigen Monaten vorstellen, dass das öffentliche und wirtschaftliche Leben so stark eingeschränkt wird. Unsere Regierungen und die Wirtschaft erkennen jetzt, dass man zukünftig zu jeder Zeit mit einer Krise rechnen und darauf vorbereitet sein muss – finanziell, aber auch logistisch. Vorbeugender Pandemie- und Bevölkerungsschutz wird in der Politik eine höhere Priorität bekommen.

Absolut positiv: Die Digitalisierung hat einen enormen Schub bekommen. Vor ein paar Wochen war es noch eine Frage der Unternehmenskultur: mobiles Arbeiten oder Präsenz im Büro. Dienstreisen werden künftig vielfach durch Videokonferenzen abgelöst. Bargeldlos zahlen, online shoppen – nach Corona ist vieles anders und wird sich fortschreiben. Wir brauchen diese beherzte Digitalisierung, eine Offenheit für neue Technik, Software und kreative Ideen, um international weiter ganz vorne mitzuspielen.