„Wir müssen uns verteidigen können“

Ein ernstes Thema, das alle bewegt: Die Vorstände Janina Rieke und Torsten Schrell nehmen die Gastrednerin Dr. Claudia Major in die Mitte. Foto: SK Lüneburg / Jan-Rasmus Lippels

Netzwerkabend bei der Sparkasse Lüneburg: Dr. Claudia Major über die Folgen des Ukraine-Kriegs für die deutsche Sicherheitspolitik.

Drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hielt Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar vorigen Jahres seine Zeitenwende-Rede und reagierte damit auf ein Ereignis, das in Europa bis dahin kaum noch jemand für möglich gehalten hatte: den Angriffskrieg eines Staates auf seinen Nachbarn. Seitdem ist Europa im Ausnahmezustand und stellt nicht nur die westlichen Gesellschaften, sondern insbesondere die Politik vor neue Herausforderungen: Wie sollen die westlichen Demokratien mit diesem Tabubruch umgehen? Antworten auf diese und viele weitere Fragen gab Dr. Claudia Major, Forschungsgruppenleiterin für Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik sowie Beraterin der Bundesregierung in Fragen der Sicherheits- und Außenpolitik, vor rund 250 Gästen, die sich auf Einladung der Sparkasse Lüneburg zum alljährlichen Netzwerk­abend im Castanea Forum in Adendorf eingefunden hatten.

Dass sich Putins Raubzug auch ganz konkret auf die Finanzwirtschaft auswirkt, machte der Vorstandsvorsitzende Torsten Schrell deutlich, der sich mit Vorständin Janina Rieke über die angeregte Diskussion freute. Schrell gab einen kurzen Abriss über die sich in „atemberaubenden Tempo verändernden Rahmenbedingungen am Kapitalmarkt“ und die hohe Unsicherheit, die beispielsweise auch durch das Vordringen digitaler Zahlungsmethoden, disruptive Konten-Angebote von Apple in den USA (4,15 Prozent Verzinsung), die Debatte über den digitalen Euro und eben auch die letztlich durch Putins Angriff ausgelösten Zinssprünge ausgelöst wurde. Schrell: „Wir erwarten massive Auswirkungen auf das Geschäftsmodell der Sparkassen.“

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Militärisches Bedrohungsgefühl

Bewegte Zeiten also, wie anschließend Claudia Major in einer beeindruckenden Analyse der derzeitigen Situation belegte: „Deutschland hat sich aus gutem Grund international sehr zurückgehalten. Doch heute müssen wir erkennen: Wir hängen davon ab, was da draußen passiert. Der russische Überfall hat den Rahmen deutlich verschoben.“ Will heißen: Über weite Strecken wurden militärischen Ausgaben zurückgefahren – sie waren in einem friedlichen Europa ja nicht mehr nötig. Dann der Überfall: „Das war so ein Schock, dass sich das Verhalten der Bundesregierung binnen weniger Tage völlig verändert hat. Zum ersten Mal gab es wieder ein militärisches Bedrohungsgefühl“, so die Sicherheitsexpertin.

In der Folge seien Entscheidungen gefallen, die vor dem 24. Februar 2022 unmöglich gewesen wären. Claudia Major: „Hätten Sie jemals geglaubt, dass Deutschland Waffen liefert, die gegen Russland eingesetzt werden? Panzerhaubitzen? Leopard 2? Dass die Regierung ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro bereitstellt?“

Für die Forscherin ist klar: Die Machtpolitik ist zurück. Und das heißt: „Wir müssen uns verteidigen können.“ Und das gelte nicht nur für Deutschland: „Eine erfolgreiche deutsche Zeitenwende ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche europäische Zeitenwende. Sicherheit in Europa ist gemeinsam mit Russland nicht mehr möglich. Künftig werden wir keine Friedensordnung mehr haben, sondern eine Konfliktordnung.“ Und: „Das Ende des Krieges ist nicht Frieden, sondern ein Konflikt, der bestehen bleibt. Wir müssen uns auf diesen Konflikt mit Russland, aber auch mit China einstellen, denn China schaut sehr genau hin, wie wir uns verhalten. Es geht um einen Angriff auf die westlichen Werte und Strukturen. Es geht um Meinungsfreiheit und Forschungsfreiheit – um alles, was unser Leben wertvoll macht.“ Und deshalb könne sich der Westen aus diesem Krieg gegen die Ukraine nicht heraushalten. Russland setze auf das „Recht des Stärkeren, dem müssen wir die Stärke des Rechts entgegenstellen.“ Die Referentin berichtete allerdings auch, dass es die meisten Länder weltweit vorzögen, sich Russland gegenüber neutral zu verhalten und die Angriff nicht zu verurteilen: „Wir sagen dazu ‚Sitting on a fence‘ – sie sitzen auf der Mauer und schauen zu. Und das empfinden die offenbar auch noch als gemütlich.“

Fragiles Machtgefüge

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Auf die Frage, inwieweit die Situation in der Ukraine mit der Person Putin verknüpft ist und ob sich Grundlegendes ändern würde, wenn er nicht mehr an der Macht wäre, sagte Claudia Major: „Wir wissen es nicht. Aber wir sehen, dass sich in der Hierarchie unter dem Präsidenten ein fragiles Machtgefüge gebildet hat – da kämpft jetzt schon jeder gegen jeden. Wäre Putin weg, dürfte dieses Machtgefüge zerbrechen und das könne letztlich sogar zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Russland führen – denn es gibt keinen Kronprinzen.“ Hinzu komme, dass die anderen ehemaligen Staaten der Sowjetunion jetzt sähen, dass sich das russische System als außerordentlich schwach zeige. Auch die Armee sei schwach. In diesen Staaten gebe es kein Interesse, unter dem russischen Einfluss zu bleiben.

Claudia Major endete mit dem Versuch einer Ermutigung: „Der Krieg ist sicherlich noch nicht vorbei, aber wir haben es in der Hand, mit unserer Unterstützung für die Ukraine unsere Werte zu schützen. Wir sind nicht nur Spielball, sondern auch Spieler. Unser Handeln hat Folgen für den Verlauf. Unser Nichthandeln allerdings auch. Egal wofür wir uns entscheiden – für beides tragen wir am Ende die Verantwortung.“ wb