Systemfehler-Republik Deutschland

Christoph Birkel ist geschäftsführender Gesellschafter des Technologieparks Tempowerk in Harburg und unter anderem Aufsichtsratsvorsitzender der Süderelbe AG. Nach dem Motto „Kritisch, aber konstruktiv“ schreibt er für B&P die Kolumne „Klartext“. Foto: Fabijan Vuksic

Klartext von Christoph Birkel.

Wenn wir uns aktuell anschauen, wie Deutschland über Jahre in die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern wie Gas, Öl und Kohle aus Russland gerutscht ist und dadurch erpressbar wurde, ist es natürlich einfach, das „politische Versagen“ zu kritisieren und sich aufzuregen. Und hinterher ist man immer schlauer. Trotzdem müssen wir auch ehrlich mit uns sein. Meiner Meinung nach offenbart dieser beklagenswerte Umstand eine Schwäche unseres politischen Systems. Und wir müssen gar nicht erst nach Berlin und Moskau schauen – vor der Haustür ist es kaum besser.

Worin der Systemfehler besteht? Es ist im demokratischen und föderalen Prozess kaum möglich, langfristige Visionen zu entwickeln und zügig umzusetzen. Solange das Recht des Individuums über dem der Gemeinschaft steht und wir Politiker mit Mut zu strategisch richtigen, aber kurzfristig vielleicht unbequemen Entscheidungen an der Wahlurne abstrafen, agieren wir in Deutschland nicht, sondern reagieren nur. Wir gestalten nicht, sondern sind Getriebene von äußeren Einflüssen. Kurz: Das System Deutschland ist träge und schwerfällig. Hier ist meines Erachtens dringend eine Reform angesagt, die es möglich macht, für die Allgemeinheit wichtige Projekte pragmatisch und zeitlich sinnvoll umzusetzen.

Bestes Beispiel ist der oft zitierte Bau der A26, der mittlerweile so lange andauert, dass darüber hin ganze Generationen von Beamten und Politikern verschlissen wurden. Und die veralteten Planungen passen schon nicht mehr zu den aktuellen Bedarfen.

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Oder nehmen wir die Elbbrücken: Seit vielen Jahren wird über eine weitere Elbquerung nachgedacht. Der Elbtunnel und die Elbbrücken sind an der Grenze der Belastbarkeit. Die Köhlbrandbrücke ist mürbe geworden, muss also weg und wird lediglich durch einen Tunnel ersetzt. Wo ist die langfristige Strategie, diese Nadelöhre zu entlasten? Nur mal angenommen, die Elbbrücken wären akut einsturzgefährdet, so bedeutete dies die Abkoppelung der südlichen Metropolregion von Hamburg und dem nördlichen Umfeld – besonders im Bereich der Bahn. Einen Vorgeschmack auf so einen SuperGau wird die anstehende Brückensanierung der Elbbrücken geben.

Ein weiteres Beispiel ist die Energiepolitik Deutschlands. Vor zehn Jahren, also vor dem Griff Putins nach der Krim, wäre es völlig undenkbar gewesen, eine energetische Unabhängigkeitsstrategie zu starten – mit dem Ziel, künftig auf russisches Gas zu verzichten. Die billige Energiequelle sprudelte munter vor sich hin, also machte es kurzfristig betrachtet überhaupt keinen Sinn, eine teurere Alternative aufzubauen – obwohl dies spätestens nach 2014 (Krim-Annexion) hätte passieren müssen. Aber: Den drohenden Shitstorm in der Wirtschaft wollte wohl niemand riskieren und keiner im Lande, Verbraucher inbegriffen, höhere Kosten in Kauf nehmen. Kein Politiker in Verantwortung im Land hatte den Mut, langfristig sinnvolle, aber kurzfristig belastende Projekte anzustoßen. Und er wäre wohl auch nicht gewählt worden!

Noch ein Wort zu Deutschlands Abenteuer Nordstream II: Nicht einmal der spürbare Klimawandel sorgte für einen Boom bei den regenerativen Energien. Stattdessen wurde fast sklavisch daran festgehalten, mit Nordstream II eine zweite Ostsee-Pipeline zu bauen, um weiterhin günstig russisches Gas zu beziehen. Man war also bereit, die Abhängigkeit zu verstärken und sich noch erpressbarer zu machen. Das durchaus vorhandene visionäre Konzept für regenerative Alternativen auf Basis von Sonne, Wind und Wasserstoff scheiterte in dieser Phase an der spitzen Berechnung der Kosten – so verlor Deutschland um ein Haar die Kompetenz im Bereich Windkraft. Warum? Weil die Politik das Marktsegment nicht als strategisches Wachstumsfeld identifizierte, wir uns zu sehr auf die Risiken fokussiert haben, statt auf die Chancen. Das Konzept „Frieden durch Handel“ kann hier nur bedingt als plausibler Grund für das Festhalten an Gas gelten. In der Konsequenz steht Deutschland nun möglicherweise ein kalter Winter ins Haus.

Seien wir mutig!

Mein Ansatz: Es gibt sicherlich für viele Entscheidungen gute Gründe. Doch was uns fehlt, ist ein politisches und administratives Instrument, das es ermöglicht, langfristige Vorhaben verpflichtend und über politische Wechsel hinaus in die Wege zu leiten. Was der Flächennutzungsplan langfristig im Bauamt regelt, müsste doch beispielsweise auch im Bereich der Versorgungssicherheit (Wasser, Strom, Treibstoff, Energie allgemein, Öffentlicher Nahverkehr, Infrastruktur, Kommunikation) möglich sein.

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Von der Politik erwarte ich, dass sie strategisch mit Weitblick agiert und im Zweifel auch Entscheidungen trifft, die vielleicht den kurzfristigen Marktgegebenheiten widersprechen, aber langfristig unerlässlich sind, diese erklärt und auch gegen Widerstände durchsetzt.

Doch wir als Wähler müssen unserer Politik diese Freiheiten auch zugestehen. Der Fisch stinkt immer vom Kopf. Und der Kopf sind wir, die Wähler. Haben wir also gemeinsam, Wähler und Politiker, den Mut, die richtigen Dinge zu tun.