REPORTAGE: Von der ersten „Flugzeugflosse“ bis zur Serienfertigung – Besuch bei Airbus in Stade-Ottenbek

Das Airbus-Werk in Stade dominiert den Stadtteil Ottenbeck, der als CFK-Standort Weltweit impliziert weit über Stades Grenzen hinaus wahrgenommen wird. Das Werk hat zwar nicht annähernd die Dimensionen von Airbus in Finkenwerder, ist aber ebenfalls wie eine Stadt in der Stadt zu sehen.Das Airbus-Werk in Stade dominiert den Stadtteil Ottenbeck, der als CFK-Standort Weltweit impliziert weit über Stades Grenzen hinaus wahrgenommen wird. Das Werk hat zwar nicht annähernd die Dimensionen von Airbus in Finkenwerder, ist aber ebenfalls wie eine Stadt in der Stadt zu sehen.

Hier werden die CFK-Seitenleitwerke für die gesamte Airbus-Palette gebaut

Von Karsten von Borstel

Kaum Licht. Geräuschloses Arbeiten. Menschenleere Hallen. „Zwischen 3 und 4 Uhr setzt die Müdigkeit ein“, sagt Hauke Pohndorf. Der Logistiker ist um Mitternacht der einzige Mensch in Sichtweite. Mehr als jeder zweite Mitarbeiter (52 Prozent) arbeitet bei Airbus in Stade im Schichtbetrieb. Tagsüber sind mehr als 2500 Menschen auf dem Gelände in Stade-Ottenbeck unterwegs. Über die gesamte Nacht verteilt sind es gerade mal 250.

Mit 1900 Mitarbeitern ist Airbus der größte Arbeitgeber im Landkreis. Stade ist das Kompetenzzentrum für Kohlefaser-Verbundwerkstoffe (CFK) und fertigt Seitenleitwerke für die gesamte Airbus-Palette. Beschäftigte von 140 Zulieferern und Fremdfirmen mischen sich täglich unter das Airbus-Volk. Finkenwerder, Buxtehude, Stade heißt das Dreieck, das sich auf rund 30 Kilometer entlang der Elbe erstreckt. Wer die Beschäftigten der drei Standorte zusammenrechnet, kommt derzeit auf 15 750 Menschen.

1983 – die CFK-Premiere

Airbus und Stade – aus heutiger Sicht eine Erfolgsstory. Doch das war nicht immer klar. 1970 startete die Produktion des Seitenleitwerks, der „Flugzeugflosse“, nach der Fusion der Hamburger Flugzeugbau GmbH mit Messerschmidt-Bülkow-Bohm. Zwei Jahre später wurde Stade Kompetenzzentrum für Seitenleitwerke. 1983 verließ das erste CFK-Teil die Hallen. In den 80er- und 90er-Jahren war der Standort von der Schließung bedroht, weil die Branche kriselte.

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Das Seitenleitwerk ist bis heute das Rückgrat des Werks. 2004 entstand das erste Großbauteil für die A380 – mit 120 Quadratmetern weltweit das größte Seitenleitwerk in Serie. Vor wenigen Wochen bekam Airbus’ Prestigeobjekt neuen Aufwind, weil Hauptabnehmer Emirates 36 neue Jets orderte. Die Produktion für die A380 läuft in Stade weiter auf Sparflamme. Ins Gewicht fällt das kaum. Denn die Bestellungen in der restlichen Airbus-Flotte brummen. Das hat Auswirkungen bis nach Hamburg, Buxtehude und freilich bis nach Stade.

Preisgekröntes Zeitmanagement

Die Flowline ist das Prunkstück. Die Linie, in der A320-Seitenleitwerke montiert werden, steht seit vier Jahren in Stade. Arbeitsverteildiagramme, ein Bändchen-System, zeigen, welcher Arbeiter an welchem Bauplatz werkelt. Dieses Zeitmanagement ist preisgekrönt. „Zugegeben, das ist nicht das Beispiel für die Digitalisierung, aber es funktioniert“, sagt Werksleiter Kai Arndt.

Arndt braucht eineinhalb Stunden für seinen Rundgang durch die Hallen für A320 und A330. Händeschütteln im Akkord. Bekommt er Gegenwind? Sicher, das sei gewollt, sagt der Chef. „Wie viele Leute in Stade grüßen, das ist etwas Besonderes“, sagt Arndt, eines der typischen „Airbus-Eigengewächse“: Ausbildung, Studium, Management, Werksleitung. Sein Eindruck: In Stade bestehen die meisten den Bettkantentest, der darüber entscheidet, ob jemand morgens zur Arbeit kommt oder sich wieder hinlegt.

Der Altersdurchschnitt liegt in Stade bei 44 Jahren. Relativ alt. Die Zahl der Auszubildenden beträgt 120, um gegenzusteuern. Die Kooperation mit der benachbarten PFH Hochschule ist seit Jahren Teil der Philosophie. Airbus lässt dort angehende Ingenieure im Bereich Verbundwerkstoffe ausbilden. Das Unternehmen ist einer der Fixpunkte für das CFK-Valley in Ottenbeck, dem Verein für CFK-Leichtbau.

Pralle Auftragsbücher

Bis Mitte 2019 sollen monatlich 60 Kurzund Mittelstreckenjets aus der A320-Familie entstehen. Infolge der Steigerung ist ein Paint Shop für Seitenleitwerke geplant. Bisher gibt es in Stade keine Lackierung – jedenfalls keine sichtbare. Intern wird wegen der prallen Auftragsbücher sogar eine höhere Taktrate gehandelt.

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Die Endmontage des Kassenschlagers findet weltweit an vier Orten statt: Toulouse, Hamburg, Mobile und Tianjin. Die Seitenleitwerke stammen alle aus Stade, weshalb das Werk den Hochlauf managen muss. Über alle Programme hinweg werden 800 Seitenleitwerke im Jahr produziert. Hinzu kommen je 180 Flügeloberschalen und Rumpfschalen für die A350, den modernsten Passagierflieger mit einem CFK-Anteil von 53 Prozent. Auch Bauteile für den Militärjet Eurofighter entstehen hier – rund 600 Einzelteile.

Das Airbus-Netzwerk Nord

Doch Stade ist nichts ohne Buxtehude, Bremen und vor allem Finkenwerder. Die norddeutschen Werke sind Schlüsselstandorte für Verkehrsflieger. Zwischen ihnen besteht ein enges logistisches Netzwerk: bei der Lieferung von Segmenten, Komponenten und Dienstleistungen. Bremen ist für die Flügelausrüstung und Landeklappen verantwortlich. Buxtehude ist mit 350 Mitarbeitern, darunter viele Ingenieure, für Kabinensysteme zuständig. Finkenwerder ist der Dreh- und Angelpunkt mit Schwerpunkt A320-Endmontage sowie Strukturmontage aller zivilen Flugzeuge.

Post-Klaus legt ein Kuvert aus der blauen Kiste auf den Stapel für Halle 6. Der Sortiertisch ist voll mit Briefen und Umschlägen. „Da kommt man ein bisschen in die Gang“, nuschelt der Mann, den alle im Werk nur Post-Klaus nennen. „Was soll so was denn dabei?“, fragt er, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Dann zerknüllt er den Pizza-Flyer.

Alle kennen Post-Klaus

Post-Klaus ist eines der Stader Urgesteine. Manch Mitarbeiter arbeitet seit den 70er-Jahren am Standort. Mit vollständigem Namen heißt Post-Klaus Klaus Tiedemann. Interne und externe Post läuft bei ihm auf. Einmal am Tag fährt er in die Abteilungen – egal ob Büro oder Halle. Zwölf bis 15 Kilometer legt er mit seinem Diesel zurück. So wenig, dass er ihn gelegentlich auf der Autobahn „austoben muss“. 30 Zustellpunkte steuert Post-Klaus an. Alles, was an Post nach Buxtehude, Finkenwerder und andere Niederlassungen rausgeht, wandert über seinen Tisch. Wie viele Mitarbeiter kennt er? „Viele“, antwortet er. Und wie viele kennen ihn? Ohne zu zögern kommt: „Alle.“

Essen ist für einen Arbeitgeber der Größenordnung Bestandteil der Infrastruktur. In der Kantine werden täglich 540 Gerichte zubereitet. Zwei Mitarbeiter kümmern sich um die kalte Küche wie 150 Salate und 100 Desserts. Schnitzel, Currywurst und Spaghetti – das geht immer. 150 Burger verspeisen die Arbeiter jeden Tag. 20 Menschen beschäftigt der Caterer Aramak. 20 Gerichte werden wechselnd angeboten.

75 Gigawattstunden Strom

Das Werk verbraucht enorme Mengen an Energie. Im Jahr werden für alle Anlagen 75 Gigawattstunden Strom bezogen. 20 Gigawattstunden stellt der Flugzeugbauer per Kraft-Wärmekopplung auf dem Werksgelände her. Zum Vergleich: Ein durchschnittlicher deutscher Haushalt verbraucht jährlich 3000 Kilowattstunden – das entspricht 0,003 Gigawattstunden.

Die Logistik zwischen den Produktionsstätten ist herausfordernd. Im Schnitt gehen 150 Transporte mit Teilen aus Stade über Land nach Hamburg, außerhalb des Hauptverkehrs und möglichst im Konvoi. Dort angekommen, werden die Komponenten verbaut oder per Schiff und Frachtflugzeug Beluga weitertransportiert. Logistisch gesehen ist der Seeweg für Stade wichtig: Aus dem Industriehafen in Bützfleth gehen wöchentlich zweimal A350-Flügelschalen aufs Schiff. Dass Flugzeugteile im Wert von Einfamilienhäusern manövriert werden, ist in den norddeutschen Standorten nicht selten. Im neuen Werksteil in Stade ist die Produktion hochautomatisiert. In Halle 60 sind alle Kräne per WLAN verbunden. Logistiker leiten auf der Fernbedienung Sequenzen ein und die Technik rangiert die Bauteile automatisch. „Hier wird auf den Knopf gedrückt, während wir drüben noch arbeiten“, witzelt Hauke Pohndorf, als die A350-Flügelschale in eine Kombi-Kabine gleitet. Es ist das größte CFK-Bauteil der Welt. Sieht so die Zukunft aus? „Definitiv“, antwortet Pohndorf.