Industrie setzt auf höhere Lagerhaltung

Alle warten auf Container – und manchmal kommen sie dann auch: Hier wird ein Containerriese von Cosco Shipping im Hamburger Hafen entladen. Viel Gewicht ist nicht an Bord, wie die Tiefgang-Anzeige signalisiert. Foto: Wolfgang Becker

IHK-Umfrage: Materialien und Rohstoffe bleiben weiterhin Mangelware.

Von Henrik Gerken

Mit den als „Long Covid der Wirtschaft“ bezeichneten Auswirkungen der Corona-Pandemie fing es an. Dann kam im Frühjahr 2022 der Angriffskrieg in der Ukraine hinzu. Folge: Seit rund zwei Jahren sind die Industrieunternehmen im Elbe-Weser-Raum mit gestörten Lieferketten, steigenden Preisen sowie Materialengpässen konfrontiert. Die IHK Stade hat dazu Unternehmen aus den Landkreisen Cuxhaven, Stade, Osterholz, Rotenburg und Verden befragt.

Von der Rohstoffgewinnung über Vorleistungsgüter bis hin zum fertigen Produkt bauen die einzelnen Wertschöpfungsstufen aufeinander auf. Wenn ein Baustein fehlt, zieht sich das oftmals durch die gesamte Angebotskette. War zu Beginn in erster Linie die Industrie betroffen, haben durch die engen Verflechtungen mit nachgelagerten Branchen mittlerweile auch andere Wirtschaftszweige die Auswirkungen zu spüren bekommen. In der jüngsten IHK-Konjunkturumfrage zeigen sich branchenübergreifend 85 Prozent der Unternehmen von der Material- und Rohstoffproblematik betroffen, in der Industrie sind es 90 Prozent.

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In erster Linie berichten die Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes von höheren Einkaufspreisen und längeren Wartezeiten. Neben stark gestiegenen Energiepreisen haben sich auch die Kosten für bestimmte Vorprodukte und Güter deutlich erhöht. Doch nicht nur die Preise machen den Betrieben zu schaffen, sondern auch die tatsächliche Verfügbarkeit der Materialien. In einigen Fällen können die erforderlichen Mengen nicht mehr beschafft werden. Die Materialknappheit führt dazu, dass im verarbeitenden Gewerbe trotz gefüllter Auftragsbücher nicht alle Aufträge abgearbeitet werden können. Knapp jeder zweite Betrieb ist betroffen. Damit ist es im Sommer 2022 noch häufiger als im vierten Quartal 2021 zu Verzögerungen bei der Bearbeitung von Kundenaufträgen gekommen. Zudem haben 26 Prozent der Industriebetriebe ihre Produktion verringert (beziehungsweise denken darüber nach). Jeder zwölfte Betrieb sieht sich gezwungen, Neuaufträge abzulehnen, weil nicht abgeschätzt werden kann, wann wieder genügend Material für die Produktion zur Verfügung stehen wird.

Erschwerte Kalkulation

Im Elbe-Weser-Raum berichten darüber hinaus sechs von zehn Industriebetrieben von einem höheren Planungsaufwand. Im Vergleich zum vierten Quartal 2021 ist dieser Anteil etwas gestiegen. Längere Lieferzeiten, höhere Preise sowie die Suche nach alternativen Materialien oder Zulieferern stellen insbesondere die Einkaufsabteilungen vor erhebliche Herausforderungen und erschweren die Kalkulation.

Um die Situation in den Griff zu bekommen, setzen 83 Prozent der Unternehmen darauf, Preiserhöhungen an ihre Kunden weiterzugeben. Im Vergleich zum Jahresende 2021 hat sich dieser Wert um neun Prozentpunkte erhöht und zeigt, welcher Preisdruck vorliegt. Das spiegelt sich auch im Erzeugerpreisindex des Statistischen Bundesamtes wider. Der Index ist eine Messgröße für die durchschnittliche Verkaufspreiseentwicklung der in Deutschland erzeugten und im Inland verkauften gewerblichen Produkte. Er ist seit Dezember 2020 beständig gestiegen. Im Juni 2022 waren die Erzeugerpreise gewerblicher Produkte 0,6 Prozent höher als im Mai. Noch größer war der Anstieg im Vergleich zum Vorjahresmonat (+32,7 Prozent).

Enormer Preisdruck

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Gleiches gilt für den Einfuhrpreisindex, der die Preisentwicklung bei Importgütern berücksichtigt und ebenfalls seit Monaten ansteigt. Gerade bei Energie und Rohstoffen, aber auch Vorleistungs- und Investitionsgüter sind die Industriebetriebe in Deutschland auf Importe angewiesen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes kommen wertmäßig 38 Prozent der in der deutschen Produktion verarbeiteten Vorleistungsgüter aus dem Ausland. Ein schwacher Wechselkurs verstärkt den Preisdruck zusätzlich. Höhere Preise müssen aber auch am Markt platziert werden können. Nicht immer können die Preissteigerungen im selben Umfang weitergeben werden. Das geht zu Lasten der Marge oder die Betriebe bleiben komplett auf den Kosten sitzen. Es drohen Investitionsausfälle.

Neben der Suche nach neuen beziehungsweise zusätzlichen Lieferanten (63 Prozent) setzen die Industrieunternehmen auch auf eine höhere Lagerhaltung. Knapp zwei Drittel wollen mit höheren Beständen einer Engpasssituation entgegenwirken. Das sind etwas mehr als noch im vierten Quartal 2021. Ein Indiz dafür könnte die hohe Nachfrage nach Betriebsmittelkrediten im ersten Halbjahr sein. Für das einzelne Unternehmen ist das Warenlager vorteilhaft, um bei ausbleibenden Lieferungen weiterhin produzieren zu können. Allerdings erzeugt der Aufbau zusätzliche Nachfrage. Dadurch verstärkt sich die Knappheit des Marktes, was wiederum Preissteigerungen nach sich zieht.

Knapp jedes fünfte Industrieunternehmen setzt auf Personalanpassungen. Hierunter können ein geringerer Personalbestand, der Abbau von Überstunden oder eine reduzierte Einstellungsbereitschaft fallen. Vor dem Hintergrund, dass es zunehmend schwieriger wird, Fachkräfte zu finden, wird auch in der aktuellen Krise das Instrument der Kurzarbeit von den Unternehmen genutzt. So können sie den Personaleinsatz auf den gegenwärtigen Bedarf abstimmen, ohne sich von Fachkräften trennen zu müssen. Um die Situation der Lieferengpässe abzumildern, spielen die Verlagerung der Produktion an einen neuen Standort sowie der Einsatz alternativer oder recycelter Materialien eine eher untergeordnete Rolle.

o Henrik Gerken ist bei der IHK Stade im Bereich Standortpolitik Ansprechpartner für Fragen der Volkswirtschaft, Industrie und Wirtschaftspolitik.

Der Stellenwert der Industrie steht im Mittelpunkt einer neuen Folge des B&P-BusinessTalks. Im Podcast mit Wolfgang Becker sprechen Martin Bockler (Leiter Standortpolitik bei der IHK Stade), Timm Grotheer (Vizepräsident IHK und Geschäftsführer der Nabertherm GmbH) und Christoph Born (Leiter des Industrie- und Umweltausschusses der IHK sowie Geschäftsführer der Stadtwerke Stade) unter anderem über die Imagekampagne pro Industrie.