Vorbereitung auf die Zeit nach der Krise

Carsten Tippe, Stellvertretender Vorsitzender der MIT Harburg-Land, setzt sich mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz auseinander.

Carsten Tippe (MIT Harburg-Land) über die Chancen des neuen
Fachkräfteeinwanderungsgesetzes und die Ausbildungssituation.

In Deutschland sind 1,4 Millionen Stellen unbesetzt, fast jedes zweite Unternehmen klagt über Schwierigkeiten bei der Suche nach geeigneten Arbeitskräften – so war es noch bis vor wenigen Wochen. Mittlerweile hat die weltweite Corona-Pandemie eine umfassende, vor allem aber unvorhersehbare Krisensituation herbeigeführt, die viele Unternehmen in teils massive Probleme stürzt und deren Auswirkungen zum heutigen Zeitpunkt noch nicht absehbar sind. Wenn die Aussagen der Virologen stimmen, wird sich die Lage jedoch wieder beruhigen – was darauf schließen lässt, dass sich die Wirtschaft nach einem globalen Absturz wieder erholen dürfte. Der Fachkräftemangel wird spätestens dann wieder zum Thema, denn in Deutschland ist er vor allem demographischen Ursprungs.

Carsten Tippe, stellvertretender Vorsitzender der MIT Harburg-Land: „Der Fachkräftemangel ist eines der zentralen Probleme der deutschen Wirtschaft und insbesondere der mittelständischen Unternehmen im Handwerk, im Gesundheitsbereich und in den freien Berufen.“

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Er verweist auf das Anfang März in Deutschland in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz: „Auf lange Sicht kann die erleichterte Zuwanderung von Fachkräften sicherlich dazu beitragen, das Umsatz- und Ertragspotenzial deutscher Unternehmen zu erhöhen und einen wichtigen Beitrag zur Sicherung ihrer Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit leisten. Doch ist mehr notwendig, um den Bedarf im Mittelstand zu decken – und nicht nur den der Industrie.“ Jahrzehntelang sei die demographische Entwicklung der Bevölkerung von der Politik ignoriert worden. Die anspruchsvollen, hoch spezialisierten und sehr verschiedenen Anforderungen im deutschen Mittelstand erfordern langjährige Erfahrungen. Der Vergleich mit den bestehenden Regelungen im EU-Ausland zeige, so der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, dass die deutschen Fachkräfte – gerade im Handwerk – oft über ein deutlich höheres Qualifikationsniveau als ihre ausländischen Kollegen verfügten. Hier biete das Fachkräfteeinwanderungsgesetz einen Ansatzpunkt zu einer positiven Entwicklung, aber keinen schellen Erfolg. In Branchen mit vergleichbaren Anforderungen (Gesundheitswesen, IT) seien jedoch deutlich positive Impulse zu erwarten.

Ausbildung:
Wer abwirbt, soll zahlen

Tippe weiter: „Ausbildung ist der Schlüssel zur Qualifikation. Der Mittelstand trägt die Hauptlast der Ausbildungsanstrengungen in Deutschland. Hier sind die Aufwendungen angestiegen. Im Gegensatz dazu haben die Dax-Unternehmen ihre Ausgaben für die duale Berufsausbildung gesenkt. Es gibt Meldungen, dass das größte deutsche Softwareunternehmen SAP keinen Auszubildenden beschäftigt. Kaum zu glauben! Gleichzeitig werben die Großunternehmen gerne die gut ausgebildeten Mitarbeiter im Mittelstand ab. Warum dann noch ausbilden?“

Der Winsener unterstützt die Forderung, dass die Ausbildung zu vergüten ist, wenn ein Mitarbeiter unmittelbar nach der Ausbildung von der Industrie abgeworben wird. Weiterhin sei zu prüfen, ob eine Ausbildungsumlage von allen Betrieben erhoben werden sollte, die nicht ausbilden. Tippe: „Eine Selbstverständlichkeit im Handwerk; doch wo ist der Anteil der Großunternehmen an dieser gesellschaftlichen Aufgabe?“

Hintergrund: Fachkräfteeinwanderungsgesetz

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Damit deutsche Unternehmen Fachkräfte leichter aus Ländern jenseits der Europäischen Union anwerben können, trat am 1. März 2020 das Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Kraft – das ist inhaltlich zwar immer noch sinnvoll, aktuell aber wegen der Corona-Pandemie obsolet. Dennoch, mit Blick auf die Zeit nach der Krise: Der Gesetzgeber erleichtert es den Unternehmen, Fachkräfte mit qualifizierter Berufsausbildung aus dem EU-Ausland anzuwerben. Bislang gab es hier Vereinfachungen für Akademiker sowie in sogenannten Mangelberufen. Ansonsten musste erst geprüft werden, ob nicht auch ein deutscher oder europäischer Bewerber zur Verfügung steht. Diese Vorrangprüfung entfällt jetzt bei anerkannter Qualifikation des Bewerbers, guten Deutschkenntnissen des Bewerbers und unter der Voraussetzung, dass der Lebensunterhalt selbst gesichert werden kann. Um das Anerkennungsverfahren zu durchlaufen, kann der geeignete Kandidat für sechs Monate nach Deutschland einreisen, um sich einen Arbeitsplatz zu suchen. Weitere Wege sind die Vermittlung durch die Bundesagentur für Arbeit aus anderen Staaten.

Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz bietet den Rahmen, den alle Beteiligten jetzt füllen müssen. Die Bundesagentur für Arbeit, Verbände und Kammern setzen sich im In- und Ausland dafür ein, dass sich die Jobbörsen weiter beleben und die auswanderungswilligen Fachkräfte klare Ansprechpartner finden. Im ersten Schritt war geplant, unter anderem auswanderungswillige Fachkräfte aus Brasilien, Vietnam, Mexiko oder den Philippinen anzuwerben – was sich Stand heute aufgrund der Pandemie bis auf Weiteres erledigt haben dürfte.

Info

Carsten Tippe (52) ist geschäftsführender Gesellschafter einer auf den Mittelstand ausgerichteten Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungsgesellschaft (AGORA Carsten Tippe GmbH) mit Sitz in Harburg. Neben seiner beruflichen Tätigkeit ist er stellvertretender Vorsitzender der Mittelstandsunion MIT im Landkreis Harburg, stellvertretender Vorsitzender der Mittelstandsunion MIT im Bezirk Nord-Ost Niedersachsen sowie MIT Vorstandsmitglied im Land Niedersachsen.