„Zuerst das Land, dann die Partei“

Foto: Jürgen MüllerAndreas Kirschenmann ist seit fünf Jahren Präsident der IHK Lüneburg-Wolfsburg und steht jetzt zur Wiederwahl an. Im B&P-Interview fordert er einen politischen Kurswechsel. | Foto: Jürgen Müller

IHK-Präsident Andreas Kirschenmann über die aktuelle Wirtschaftslage in Deutschland, 
die Bürokratie  im Besonderen und die politische Baustelle in Berlin.

Fast fünf Jahre ist es her, dass der Hollenstedter Unternehmer Andreas Kirschenmann (Gastroback) als neugewählter Präsident der IHK Lüneburg-Wolfsburg sein Leitmotto formulierte: „Deutschland muss schneller werden!“ Mit dem Lieferkettengesetz und drohenden weiteren EU-Regulierungen kommen allerdings weitere erhebliche Bürokratielasten auf die Wirtschaft zu. In Kombination mit hohen Energiepreisen und den Folgen der CO2-Bepreisung sind jedoch mittlerweile neue Faktoren im Spiel, die dafür gesorgt haben, dass die einstige EU-Lokomotive Deutschland immer langsamer wird. Der Standort ist somit nur noch bedingt wettbewerbsfähig. Vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Spannungen klingt die Forderung nach Bürokratieabbau zwar fast banal, doch ist hier eines der Haupthemmnisse für die Rückkehr auf den Wachstumspfad zu finden, wie Kirschenmann im Gespräch mit B&P-Objektleiter Wolfgang Becker bestätigt.

Bevor wir zum Thema Bürokratie kommen: Ist Deutschland aus Ihrer Sicht schneller geworden?

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Ich meine schon, dass sich das Bewusstsein in der Politik schon verändert hat. Das sehen wir an der sehr schnellen Genehmigung von LNG-Terminals, beispielsweise in Wilhelmshaven. Wenn wir müssen. geht es dann plötzlich – und man bleibt dann bei den Genehmigungsverfahren eben nicht an Kleinigkeiten kleben. Aber wir brauchen generell mehr Tempo. Beim Ausbau der Infrastruktur, beim Ausbau der erneuerbaren Energie und auch bei der Wiederherstellung unserer Verteidigungsfähigkeit. Die Politik hat das schon erkannt.

Ein Bremsfaktor ist die Bürokratie, wie vor allem aus Wirtschaftskreisen beklagt wird. Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz den Abbau von Bürokratie fordert, zugleich aber einem politischen Apparat vorsteht, der Bürokratie produziert, ist das dann nicht paradox?

In der Tagespolitik spiegeln sich konkrete Ergebnisse zumindest nicht wider. Wir erleben bürokratische Auswüchse, die in der Theorie vernünftig sein mögen, in der Praxis aber nicht umzusetzen sind. Das beste Beispiel ist das Lieferkettengesetz, das aktuell nur für Großunternehmen und Konzerne gilt, in Wahrheit aber bis in den Mittelstand durchschlägt, weil sich die Konzerne bei ihren mittelständischen Lieferanten und Geschäftspartnern absichern müssen. Wir brauchen weniger Gesetze, weniger Verordnungen und mehr Freiheitsgrade auf den operativen Ebenen. Damit meine ich die Länder und die Kommunen. Kein Unternehmen kann sich eine derartig starre Struktur leisten. Das liegt oft daran, dass man nicht genau weiß welche Normen man zum Beispiel bei Genehmigungsverfahren priorisieren soll. Man ist dann quasi im Regelungs-Schachmatt.

Wenn schon regeln, dann aber richtig. Eine typisch deutsche Angewohnheit – wie kommt das im Ausland an?

Die Welt schaut verwundert auf Deutschlands Politik. Andere Nationen können nicht verstehen, warum wir so wenig pragmatisch handeln. Wir haben derzeit mit minus 0,4 Prozent eine schrumpfende Wirtschaftsleistung. Die USA liegen bei plus fünf Prozent, China bei vier Prozent – was für China vergleichsweise niedrig ist. Selbst der EU-Durchschnitt liegt deutlich über Deutschland.

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Was aber nicht nur Folge der Bürokratie sein dürfte . . .

Dreh- und Angelpunkt sind die Energiepreise. Der Strompreis liegt deutlich über den Gestehungskosten. Hier haben wir es mit regulatorischen Kosten zu tun, die politisch gewollt sind, um den Verbrauch zu senken. Das heißt im europäischen Vergleich: Strom ist in Deutschland viel zu teuer. Und das wirkt sich auf die Produktion, die Wettbewerbsfähigkeit, den Konsum und die Investitionen aus. Das ist für eine Industrie-Nation extrem schädlich, denn eine Folge ist die Abwanderung von Unternehmen. 

Hohe Stromkosten beflügeln zudem die Inflation und so dreht sich die Abwärtsspirale immer weiter. Wie lässt sich das stoppen?

Die erste Maßnahme: Die Strompreise müssen sinken. Sie sind künstlich verteuert – dann muss man diese ideologisch getriebene Anhebung eben mal für einige Zeit aussetzen.

Hier hat es ja jüngst eine Reaktion in Berlin gegeben, die allgemein mit Beifall bedacht wurde. 

Grundsätzlich ist es richtig die energieintensive Industrie bei den Stromkosten zu entlasten. Wir fordern aber eine breitere Entlastung, auch des Mittelstands und auch der Konsumenten. Wir brauchen hier einen umfassenden Effekt. Stromsteuer und Netzentgelte müssen gesenkt werden. Wir brauchen eine Angebotsausweitung beim Strom. Das heißt der Ausbau der erneuerbaren Energie muss stark beschleunigt werden.

Stattdessen ist jetzt aber erstmal das 60-Milliarden-Paket vom Gericht kassiert worden . . .

Wie die Regierung das Programm vor dem Hintergrund der aktuellen Verfassungsgerichtsentscheidung gegenfinanzieren will, ist fraglich. Durch weitere Steuern? Und Abgaben? Eines steht fest: Auf keinen Fall kann die deutsche Wirtschaft in dieser Situation weitere Belastungen gebrauchen.

Das klingt alles sehr einleuchtend, aber warum sehen wir keine Ergebnisse? Warum passiert in der angespannten Lage so wenig? Wo sehen Sie die größte Baustelle?

Die sitzt in Berlin. Die politische Konstellation verhindert pragmatische und schnelle Lösungen. In der aktuellen Lage brauchen wir einen Kurswechsel. Der DIHK hat Mitte November eine Resolution mit einem Zehn- Punkte-Plan verabschiedet, der auf einer Initiative unserer IHK Lüneburg Wolfsburg basiert (siehe auch Seite 18, 
d. Red.). Berlin muss den Schalter umlegen, damit die deutsche Wirtschaft wieder wachsen kann. Wir müssen den Fokus wieder auf Wertschöpfung legen. Gerade in dieser Situation brauchen wir eine gute wirtschaftliche Lage, damit die Herausforderungen, die vor uns liegen, gemeistert werden können.

Welche Herausforderungen konkret?

Auf das Land kommen erhebliche Kosten zu, zum Beispiel bei der Verteidigung und auch im Bereich der Investitionen. Ich denke, dass man sich gerade jetzt nach dem Urteil des Verfassungsgerichts zusammensetzen muss, um eine gute Lösung zu finden und einen Kurswechsel einzuleiten. Angesichts der Dramatik der Lage in der Wirtschaft gilt für mich der Leitsatz „Zuerst das Land, dann die Partei“, um mal auf die politische Konstellation in Berlin einzugehen. Das habe ich auch dem CDU-Generalsekretär gesagt.

Mal angenommen, die Politik würde sich auf ein Miteinander verständigen und pragmatische Lösungen beschließen. Die Erfahrung zeigt doch aber, dass Bürokratie zumeist auf der operativen Ebene entsteht – in den Ämtern und Behörden. Dort geht es bei Bebauungsplänen nicht um Geschwindigkeit, sondern zu allererst um Rechtssicherheit. Niemand handelt sich gern Verfahrensfehler oder gar Klagen ein. Was läuft da schief?

Das Thema Beschleunigung muss tiefer in das gesellschaftliche Bewusstsein eindringen, denn am Ende geht es um Arbeit, Einkommen, Steuern und Wohlstandserhalt. Die Abwägung von Allgemeininteresse und Individualinteresse wird auf teils irrwitzige Weise verzerrt. Es gibt Gegenden, da demonstrieren Anwohner für eine Infrastrukturmaßnahme, während Verbände und Menschen, die dort gar nicht leben, dagegen klagen.

Eine echte Posse haben wir vor der Haustür in Buxtehude. Die Hansestadt bekommt keinen Autobahnanschluss, weil Anlieger klagen. Immerhin sind die betroffen, aber das Allgemeininteresse bleibt auf der Strecke. 

Es ist ja schon eigenartig: Wir wollen alle schnell von A nach B, aber wehe, es wird eine Straße in der Nähe geplant. Oder gar eine Eisenbahntrasse, die Königsdisziplin. Seit Jahrzehnten wird über eine Südtrasse diskutiert – ohne nennenswertes Ergebnis. Oder nehmen wir die A39. Es ist doch ganz einfach: Wenn die A39 nicht gebaut wird, dann werden auch die Gewerbegebiete entlang der Strecke nicht gebaut. Die daraus generierten Einnahmen fehlen dann wieder in Schulen, Kitas, und so weiter. Wer politisch entscheidet, sollte sich folgende Fragen beantworten: Was passiert eigentlich, wenn wir alles richtig machen? Und was passiert, wenn wir alles falsch machen? Wir müssen uns klarmachen, dass das alles Folgen für die Zukunft hat. Wenn wir so weitermachen, findet ein großer Teil der Zukunft woanders statt.

Zu guter Letzt der Blick nach Brüssel: Welche Rolle spielt die EU in Bezug auf Bürokratie?

Die EU muss dringend eingefangen werden. Es ist politisch gefährlich, wenn sich die Menschen überfordert fühlen, Ängste entwickeln und sich nicht mitgenommen fühlen. Sowohl gesamtpolitisch als auch in Bezug auf bürokratische Regelungen, die wir hier in Deutschland ja immer besonders genau umsetzen. Auch für die Politik auf EU-Ebene gilt: Am Ende geht es darum, Politik im Interesse der Bürger zu machen